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Seit der Bartgeier im Schweizerischen Nationalpark mit Frei­lassungen zwischen 1991 und 2007 wieder angesiedelt wurde, wächst die Population kontinuierlich. Damit das so bleibt, braucht es Schutzmassnahmen und Aufklärungsarbeit. Im Gespräch mit David Jenny und dem Bartgeier Veronika erfahren wir, wie sich die Stiftung Pro Bartgeier für die Erhaltung des sensiblen Gleichgewichtes einsetzt.

Mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,8 Metern ist der Bartgeier eine imposante Erscheinung. Man kann sich gut vorstellen, wie er mit seinem eindrucksvollen Aussehen, dem dunklen Bart, den feuerroten Augen und seiner aussergewöhnlichen Grösse den Menschen Respekt einflösste und Ängste weckte. Lange war der grösste Greifvogel der Alpen als «Lämmergeier» verrufen, sogar Kinderraub wurde ihm angelastet. Dies führte zu einer gezielten Jagd auf den Geier und schliesslich zu seiner Ausrottung in der Schweiz Ende des 19. Jahrhunderts. Der Mythos über vermeintlichen Lämmer- und Kinderraub hielt sich bis ins 20. Jahrhundert hinein.

Heute wissen wir viel mehr über das Leben des Bartgeiers. Die Forschung hat mit den alten Schreckensbildern aufgeräumt. David Jenny, Regionalkoordinator Graubünden der Stiftung Pro Bartgeier, betont im Gespräch: «Es gibt keine Belege, dass der Geier Schaden anrichtet.» Im Gegensatz zum aktiv jagenden Adler ernährt sich der Bartgeier ausschliesslich von Aas. Der Vogel deckt erwiesenermassen bis zu 80 Prozent seiner Nahrung über Knochen.

Die stark rötliche Farbe von Brust und Hals eignen sich Bartgeier durch regelmässiges Baden in Rostwasserpfützen an. Warum sie dies tun, ist noch nicht restlos geklärt. (Bild: David Jenny)
Die stark rötliche Farbe von Brust und Hals eignen sich Bartgeier durch regelmässiges Baden in Rostwasserpfützen an. Warum sie dies tun, ist noch nicht restlos geklärt. (Bild: David Jenny)

Warum jeder Bartgeier zählt

Zu Beginn der 1990er-Jahre wurden Bartgeier im Schweizerischen Nationalpark aktiv angesiedelt. Die Stiftung Pro Bartgeier, vormals «Gesellschaft für die Wiederansiedlung des Bartgeiers» wurde 1989 bzw. 1999 als gemeinnützige Stiftung mit Sitz in Zernez ­gegründet. Das erklärte Ziel der Stiftung ist die Rück­-
kehr des Bartgeiers in die Alpen. Um das zu erreichen, braucht es eine gute Vernetzung mit nationalen und regionalen Organisationen.

Bartgeier pflanzen sich sehr langsam fort. Sie werden mit 5 bis 7 Jahren geschlechtsreif. Eine erfolgreiche Jungenaufzucht gelingt aber meist erst ab einem Alter von 8 bis 9 Jahren. Dabei kann ein Brutpaar in einer Brutsaison höchstens einen Jungvogel grossziehen. Das bedeutet: Bartgeier können langfristig nur dort überleben, wo sie gut geschützt sind.

In der Zentralschweiz werden auch heute noch Bartgeier ausgewildert. Die kurz vor dem Flüggewerden stehenden Jungvögel werden in künstliche Brutnischen hochgetragen, freigelassen und noch einige Zeit lang gefüttert. (Bild: David Jenny)
In der Zentralschweiz werden auch heute noch Bartgeier ausgewildert. Die kurz vor dem Flüggewerden stehenden Jungvögel werden in künstliche Brutnischen hochgetragen, freigelassen und noch einige Zeit lang gefüttert. (Bild: David Jenny)

Vom Windrad bis zum Hobbyfotograf

Der Bartgeier ist eine streng geschützte Art, die jedoch zahlreichen Gefahren und Belastungen ausgesetzt ist. Wilderei, illegale Vergiftungen, Bleivergiftungen, ungesicherte Stromleitungen, Windkraftanlagen sowie menschliche Aktivitäten wie Helikopterflüge, Drohnen, Gleitschirmflüge, Klettertouren und ­Naturfotografie können den Lebensraum beeinträchtigen.

Um den Bartgeier wirksam zu schützen, sind ge­zielte Massnahmen notwendig. Die Infrastruktur muss angepasst werden: Nicht stromschlaggesicherte ­Strommasten müssen saniert und Standorte für Windkraftanlagen mit Rücksicht auf Brutgebiete sorgfältig ausgewählt werden.

Heikel ist besonders die Zeit der Brut. Bartgeier reagieren in dieser Phase äusserst sensibel auf menschliche Einflüsse. Im schlimmsten Fall verlassen die Vögel ihren Horst. Eine wachsende Gilde von NaturfotografInnen stellt in diesem Zusammenhang eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Während viele sensibel und respektvoll agieren, gibt es leider auch «schwarze Schafe», die durch ihr Verhalten Störungen verursachen, wie Jenny erklärt. Deshalb wird mit grosser Zurückhaltung über die Standorte von Brutplätzen kommuniziert. Eine gezielte Sensibilisierung und die Vermittlung des richtigen Zeitpunkts für Beobachtungen sind daher essenziell.

Um Brutplätze werden beispielsweise temporäre Flugbeschränkungszonen für Helikopterflüge ausgeschieden. Auch mit dem Schweizerischen Hängegleiter-Verband besteht in Graubünden ein Pilotprojekt: «Sobald ein heikler Brutplatz besetzt ist, werden Schutzzonen bekannt gegeben. Die meisten Pilotinnen und Piloten respektieren diese freiwillig», sagt David Jenny. Ein Erfolg, der auf wirksame Öffentlichkeitsarbeit zurückzuführen ist. Erfreulich sei der heute sehr hohe Stellenwert des Bartgeiers und die hohe Akzeptanz in der Bevölkerung, betont Jenny.

Junge Bartgeier tragen ein dunkles, schwarzgraues Gefieder. Bis zum kommenden Winter verbleiben sie noch in ihrem Heimat­revier und werden von ihren Eltern mit Futter versorgt. Danach beginnt eine lange Wanderschaft durch den Alpenraum, stets auf der Suche nach Nahrung in Form von toten Tieren. (Bild: David Jenny)
Junge Bartgeier tragen ein dunkles, schwarzgraues Gefieder. Bis zum kommenden Winter verbleiben sie noch in ihrem Heimat­revier und werden von ihren Eltern mit Futter versorgt. Danach beginnt eine lange Wanderschaft durch den Alpenraum, stets auf der Suche nach Nahrung in Form von toten Tieren. (Bild: David Jenny)

Zurück zum Geburtsort

Dass die Massnahmen greifen, zeigt die wachsen­de Population. In Graubünden leben derzeit 19 Brut­paare – so viele wie nirgends sonst in der Schweiz. Der Schweizerische Nationalpark bleibt das Herzstück der Bartgeierpopulation. David Jenny erklärt das mit der Brutorttreue, dem wiederholten Brüten am selben oder zumindest räumlich sehr nahe gelegenen Ort. Nur etwa 15 % der Geier blieben in der Ferne, die meisten kämen zurück an ihren Geburtsort. Wichtig sei beides. Die optimale Anpassung an eine Umgebung sowie der genetische Austausch.

«Er gehört hierher»

Gefragt nach den Zukunftswünschen für den Bart­geier, antwortet David Jenny: «Dass es so weitergeht. Dass seine Population wächst und er den gesamten Alpenraum wieder besiedeln kann – dort, wo er Nahrung und sichere Brutplätze findet. Denn er gehört hierher. Der Bartgeier ist nicht nur ein Aasfresser, der am natürlichen Abbauprozess beteiligt ist. Er ist Teil des ökologischen Kreislaufs, eine Bereicherung für die alpine Artenvielfalt. Und mehr noch: Er ist eine Freude. Ein Symbol für die Reichhaltigkeit und Schönheit der Natur. Der Bartgeier muss keine Rolle erfüllen, um seine Daseinsberechtigung zu beweisen. Er gehört in die Alpen.» Die Begeisterung für diese Tiere ist nachvollziehbar; wer einmal das Glück hatte, einem Bartgeier in freier Wildbahn bei seinem majestätischen Kreisen zuzusehen, der weiss, wie tief und nachhaltig dieser Anblick berühren kann.

Vom einst gefürchteten Lämmerfresser zum Symbol für Artenvielfalt – der Bartgeier zeigt, wie sich ­Mythen wandeln können.

 

 

Bartgeier-Dame Veronika.
Bartgeier-Dame Veronika.

Von Auswilderung und Auswanderung

Eine wahre Geschichte in einem fiktiven Gespräch.

Terra Grischuna: Guten Tag, Veronika! Du bist mittlerweile 26 Jahre alt – und hast ein wirklich aussergewöhnliches Leben hinter dir. Erinnerst du dich noch an deine ersten Flugversuche?
Veronika: Oh ja, das war 1999 im Schweizerischen Nationalpark. Ich war neugierig, stark – und bereit, die Welt zu entdecken. Damals war ich einer der ersten Bartgeier, die im Alpenraum wieder ausgewildert wurden. Ganz schön aufregend!

Du bist später in Hochsavoyen (Frankreich) sesshaft geworden und hast dort viele Jahre verbracht, richtig?
Genau. Seit 2006 habe ich mich dort niedergelassen. Es ist ein wunderschönes Gebiet – steile Felswände, gute Thermik, viel Ruhe. Zwischen 2009 und 2015 habe ich dort neun Jungtiere grossgezogen. Ich bin stolz auf meine Geier-Familie.

2017 wurdest du plötzlich zurückgefangen. Was war los?
Ich war geschwächt, es ging mir nicht gut. Die Menschen, die mich betreuen, haben mich eingefangen, untersucht – und mir dann einen GPS-Sender verpasst. Nach zwei Wochen gings zurück in die Freiheit. Ab da wurde es … nun ja, ein bisschen ungewöhnlich.

Du hast ein sehr spezielles Verhalten gezeigt: Du bist zwischen Hochsavoyen und dem Engadin gependelt – fast 30 Mal in fünf Jahren. Was war da los?
Tja, manchmal ruft eben die Heimat – und manchmal der Instinkt. Vielleicht war ich auf der Suche nach dem perfekten Ort … oder ich wollte einfach beide Welten geniessen. Die Forscher waren jedenfalls ganz baff – so ein Verhalten kannte man bei uns Bartgeiern bis dahin nicht.

Und dann kam 2022 Gypsy in dein Leben. Ein deutlich jüngerer Bartgeier …
Ja, 18 Jahre jünger! Aber sehr charmant, zielstrebig und ein guter Partner. Wir haben im Winter 2022/23 zum ersten Mal gemeinsam gebrütet – und am 16. Juli 2023 ist unser Junges ausgeflogen. Mein zehntes Küken! Das war ein besonderer Moment.

Leider hat sich dein Gesundheitszustand später wieder verschlechtert. Was ist passiert?
Im Oktober 2023 haben die Menschen bemerkt, dass ich mich nicht mehr bewege. Sie haben mich gesucht und gefunden – verletzt, mein rechter Flügel wollte nicht mehr richtig. Zuerst dachten alle an eine Prellung. Aber es war schlimmer: schwere Arthritis in der Schulter. Das hat mir die Rückkehr in die Lüfte leider verwehrt.

Bedeutet das das Ende deiner Freiheit?
Ja, zumindest in der freien Wildbahn. Aber ich bin gut untergebracht im Natur- und Tierpark Goldau. Ich werde dort liebevoll versorgt. Und: Ich werde bald Teil des Erhaltungszuchtprogramms. Auch ohne Fliegen kann ich noch etwas beitragen.

Wie blickst du auf dein Leben zurück?
Mit Stolz. Ich habe in meinem Leben viel gesehen, viel gewagt, viele Jungtiere grossgezogen – und vielleicht auch ein paar Menschen inspiriert, sich für unsere Art einzusetzen. Und wer weiss – vielleicht wird mein Nachwuchs eines Tages in der Wildnis das fortsetzen, was ich begonnen habe.

Vielen Dank für das Gespräch, Veronika – und alles Gute für deine Zukunft!

Weitere Infos

Isabelle Brügger ist Autorin und Sozialarbeiterin.