100 Jahre Automobil in Graubünden
Entdecken Sie unsere jüngste Ausgabe zum Thema 100 Jahre Automobil in Graubünden

Ist ihnen vielleicht auch schon aufgefallen, dass Häuserecken in engen Gassen mit markanten Steinblöcken versehen sein können? Und haben sie sich vielleicht gefragt, ob das blosse Zierde sei oder ob die Steine eine bestimmte Funktion gehabt haben könnten? Es handelt sich um sogenannte «Kratzsteine». In der Churer Altstadt gibt es eine grosse Zahl davon. Ich bin erstmals anlässlich einer Stadtführung in Konstanz auf Kratzsteine gestossen. Seither lassen mich diese Steine nicht mehr los und ich erspähe sie überall. Doch ist mir aufgefallen, dass kaum jemand die Bedeutung dieser Steine kennt und sie entsprechend auch nicht wahrnimmt. Dieser Beitrag trägt allenfalls dazu bei, dass den Kratzsteinen etwas mehr Beachtung zukommt.
Kratzsteine an der Paradiesgasse, am Arcasplatz,und am Hegisplatz.
Kratzsteine, auch Radabweiser genannt, sind gerundete Bauteile aus Stein zum Schutz von Gebäudeecken gegen Beschädigung durch Fahrzeuge. Das waren bis vor 100 Jahren, als das Fahrverbot für Automobile im Kanton Graubünden definitiv aufgehoben wurde, ausschliesslich Pferdefuhrwerke und Kutschen. Diese Gefährte waren länger als die heute üblichen Autos. Während die Pferde problemlos in eine rechtwinklig abbiegende Gasse einbiegen konnten, schnitt das nachfolgende Gefährt die Kurve und konnte leicht mit einer Hausecke kollidieren und diese beschädigen. Aus diesem Grund wurden Hausecken mit solchen vorgelagerten Radabweisern geschützt. Man stattete nicht nur Hausecken, sondern auch Toreinfahrten damit aus, was man heute in Chur noch beim Obertor oder beim Eingangsbogen zur Rathaushalle (Abbildung) sehen kann. In Berlin verwendete man beim Brandenburger Tor dafür nicht Steine, sondern ein in den Boden eingelassenes Kanonenrohr.
Kratzsteine schützten aber nicht nur die Hausecken, sondern gleichzeitig auch die Räder und Achsen der Wagen. Das durch die idealerweise konische Form der Steine, die sich nach oben hin verjüngte. Kam ein Wagenrad einem konischen Kratzstein zu nahe, traf es zuerst mit dem äusseren Rand des Rades unten auf den Stein und wurde so abgewiesen. Der wichtigste Teil des Rades, die Nabe, blieb unversehrt, sodass es nicht zu einem gefürchteten Achsenbruch kommen musste. Da die Räder mit Eisenbändern verstärkt waren, bekamen die Steine nicht selten Kratzspuren ab. Weichere Gesteinsarten wie Sandstein wurden zu rasch abgewetzt und mussten mit Eisenbändern verstärkt werden, allerdings nicht immer mit Erfolg, wie eine der Abbildungen zeigt.
In Chur finden sich Kratzsteine vor allem im südöstlichen, älteren Teil der Altstadt, dem bischöflichen Hof vorgelagert in den schmalen und verwinkelten Gässchen rund um den Hegisplatz, Süsswinkelgasse, Vazerolgasse, Kirchgasse und Paradiesgasse. Man findet sie hingegen nicht in breiteren Strassen wie der Poststrasse, in der einst der Mühlbach offen dahin floss, oder in der Reichsgasse, wo Trottoirs die Häuser schützen. Es mag deshalb vielleicht erstaunen, dass es auch um den Arcas, den grössten Platz in der Altstadt mehrere Kratzsteine gibt. Das erklärt sich dadurch, dass bis 1971 Magazinbauten den Platz verstellten, sodass die dazwischen liegenden Gässchen sehr eng waren.
Kratzsteine gibt es nicht nur in der Churer Altstadt. Gehen Sie durch enge Gässchen irgendeines Dorfes und Sie können da und dort Kratzsteine finden. Es sei hier nicht verschwiegen, dass nicht alle Kratzsteine schön anzusehen sind, da sie heute vor allem den Hunden als Pinkelsteine dienlich zu sein scheinen.
Vielleicht kennen Sie den Ausdruck «die Kurve kratzen». Dies ist ein Relikt aus alten Zeiten, als man mit einem Pferdefuhrwerk gerade noch einmal eine Kurve geschafft hat, mithilfe eines Kratzsteines und unter Hinterlassung einer Kratzspur am Kratzstein. Die Metapher wird heute im übertragenen Sinn verwendet, wenn man einer misslichen Lage knapp entrinnen konnte oder sich aus dem Staub gemacht hat. Damit lebt die Funktion des Kratzsteins auch heute mindestens in unserer Umgangssprache weiter.
Autor Walter Reinhart war von 1991 bis 2013 Chefarzt der Medizin am Kantonsspital Graubünden in Chur. Er ist Ehrenmitglied der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften. Seit 2012 ist er Präsident der Stiftung Bündner Kunstsammlung.