Bündner Luft
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Terra Grischuna: Die Zahlen der Erstgebärenden in Graubünden verschieben sich hin zu älteren Müttern – ist das etwas, das Sie in Ihrer Praxis als Hebamme direkt merken?
Angelica Signer-Urech: Absolut. Die Hebammenarbeit hat sich in den letzten Jahren unter anderem wegen des Älterwerdens der Frauen verändert. Oft sind es Frauen, die 35 oder manchmal auch 40 Jahre eigenständig unterwegs waren, 100 Prozent gearbeitet haben, mehr oder weniger das machen konnten, was sie wollten – und nun vor einer grossen Veränderung in ihrem Leben stehen.
Und das bringt Herausforderungen mit sich?
Wenn der Kinderwunsch aufkommt, haben diese Mütter manchmal die grössere Herausforderung, sich auf die Kinder einzulassen. Mit kleinen Kindern ist man stark fremdgesteuert. Man muss die eigenen Bedürfnisse hinten anstellen. Und je länger man zuvor ein selbstbestimmtes Leben geführt hat, desto schwieriger ist oftmals diese Umstellung.
Das klingt erst mal negativ. Gibt es auch Vorteile?
Natürlich! Es gibt sehr viele positive Aspekte. Ältere Frauen wissen oft genau, was sie wollen und was nicht. Sie können ihre Wünsche klar äussern und sagen uns direkt, wie sie sich die Geburt vorstellen. Ausserdem kennen sich diese Paare meist schon länger. Sie wissen, wo ihre Stärken und Schwächen liegen. Das ist eine grosse Ressource für uns in der Betreuung.
Ältere Frauen wissen oft genau, was sie wollen und was nicht.
Die Bündner Regionalspitäler haben finanzielle Schwierigkeiten, es gibt weniger Kinder – warum planen Sie ausgerechnet jetzt ein Geburtshaus?
Uns ist extrem wichtig, dass sich jede Frau gut aufgehoben fühlt. Auch wenn die Geburt anders verläuft als geplant, soll sie rückblickend sagen können: Meine Wünsche wurden ernst genommen und ich wurde ehrlich informiert. Das ist unser Anliegen.
Die Spitalmedizin arbeitet mit festen Standards. Ist das bei Ihnen anders?
Ab 34 wird jede Frau automatisch zur «Risikoschwangeren» – obwohl sie vielleicht kerngesund ist. Das ist ein Problem, das die Medizin selbst geschaffen hat. Stellen Sie sich vor: Sie kommen freudig zur ersten Kontrolle und hören: «Sie sind eine Risikoschwangere.» Jede Frau erschrickt erst mal.
Angelica Signer-Urech, Mitinitiantin des Geburtshauses Graubünden (Bild: Ursina Heinz)
Wie gehen Sie damit um?
Wir stärken das Vertrauen in den eigenen Körper. Diese Frauen sind nicht krank – sie sind einfach 34, 39 oder 45. Unser Fokus liegt nicht auf Risiken, sondern auf den Stärken der Frau. Übrigens: Bei uns gibt es keine Altersgrenze. Auch eine 45-Jährige kann ins Geburtshaus, wenn sie gesund ist.
Was läuft im Geburtshaus anders als im Spital?
Wir gehen vom Normalen aus, nicht von möglichen Problemen. Nur gesunde Frauen gebären bei uns – dadurch braucht es automatisch weniger Eingriffe. Im Spital wird schneller mal ein Wehenmittel gegeben. Wir sind geduldiger. Ausserdem betreut eine Hebamme nur eine Frau, nicht drei gleichzeitig. Studien zeigen: Das reduziert den Schmerzmittelbedarf erheblich.
Wir gehen vom Normalen aus, nicht von möglichen Problemen.
In einem Geburtshaus gehen die Hebammen sehr individuell auf die Gebärenden ein – ist das nicht viel teurer als im Spital?
Im Gegenteil. Mit Blick auf die Gesundheitskosten ist ein Geburtshaus eindeutig preiswerter. In einem Geburtshaus brauchen wir «nur» Hebammen – keinen Arzt, keinen Anästhesisten, kein OP-Personal. Dadurch ist es viel günstiger als im Spital. Gleichzeitig haben wir eine Anbindung an das Kantonsspital für Notfälle. Die meisten Geburten verlaufen normal, aber wenn plötzlich etwas schiefgeht, kann man schnell ins Spital wechseln. Darum sehen wir uns als Ergänzung zum Spital, nicht als Konkurrenz.
Warum wollen Sie auf die Spitalliste?
Ohne Spitalliste zahlt die Krankenkasse nur die Geburt – alle anderen Leistungen müssen Familien selbst finanzieren. Das wollen wir nicht. Geburt soll nicht vom Portemonnaie abhängen. Jede Frau verdient diese Wahlfreiheit, egal woher sie kommt oder wie viel Geld sie hat.
Sprechen Sie gezielt andere Kulturen an?
Ja, sehr gerne. Viele Kulturen schätzen es, wenn nur Frauen bei der Geburt anwesend sind. Manchmal darf nicht einmal der Vater dabei sein. Für diese Familien kann unser Geburtshaus genau das richtige Angebot sein.
Diese individuellere Betreuung führt uns zu einer grundsätzlichen Frage: Historisch war Geburtshilfe jahrhundertelang Frauensache, bis männliche Ärzte dazukamen. Wie sehen Sie das?
Tatsächlich gab es eine Zeit, wo Hebammen nur noch Gehilfinnen der Ärzte waren. Aber heute erleben wir eine Gegenbewegung. Das Geschlecht spielt keine Rolle mehr – weder bei Hebammen noch bei Ärzten. Auch männliche Hebammen bereichern jedes Team.
Was zählt dann?
Vertrauen und Verständnis zwischen Hebammen und Ärzten. Unser Credo ist einfach: Eine normale Geburt funktioniert ohne Arzt, eine komplizierte nicht ohne Arzt, aber beide nicht ohne Hebamme. Wir ergänzen uns.
Eine normale Geburt funktioniert ohne Arzt, eine komplizierte nicht ohne Arzt, aber beide nicht ohne Hebamme.
Gibt es heute auch Druck zur «perfekten natürlichen Geburt»?
Leider manchmal schon. Manche glauben, nur eine spontane Geburt macht glücklich. Das sehen wir anders. In der Geburtsvorbereitung sagen wir klar: Es ist egal, wie du gebärst. Wichtig ist nur, dass du dich gut aufgehoben fühlst.
In Graubünden hat sich das Alter der Mütter in den letzten fünf Jahrzehnten fundamental verändert. Während 1970 noch zwei Drittel aller Frauen ihre Kinder vor dem 30. Geburtstag bekamen, sind es heute nur noch ein Viertel. Die Zahlen des Amts für Wirtschaft und Tourismus zeichnen ein eindrückliches Bild des gesellschaftlichen Wandels.
Der Rückgang bei jungen Müttern ist dramatisch: Von 1850 Geburten bei Frauen unter 30 Jahren (1970) auf nur noch 365 heute – ein Minus von 80 Prozent. Gleichzeitig stieg die Zahl der Mütter über 30 von 925 auf 1173 Geburten. Besonders stark wuchs die Gruppe der 35- bis 39-Jährigen um 60 Prozent.
Der historische Wendepunkt lag um 1995–2000, als erstmals mehr Frauen über 30 als unter 30 gebaren. Das Durchschnittsalter der Mütter kletterte von 27 auf 33 Jahre.
Parallel dazu sanken die Gesamtgeburten im Kanton um 45 Prozent – von 2775 (1970) auf 1538 (2023). Dieser Trend spiegelt gesamtschweizerische Entwicklungen wider: Längere Ausbildung, Karriereaufbau und veränderte Lebensentwürfe haben die Familiengründung nach hinten verschoben.
Die Daten dokumentieren einen der markantesten demografischen Wandel in der Schweizer Geschichte – mit weitreichenden Folgen für Gesellschaft und Gesundheitswesen.
📉 Geburtenrückgang: Fast die Hälfte weniger Babys (-44.6%) trotz Bevölkerungswachstum
🔴 Rot (< 25) schrumpft: Von einem Drittel auf fast nichts (31% → 4%)
🟠 Orange (25-29) verliert: Einst größte Gruppe, heute nur noch 20%
🔵 Blau (30-34) dominiert: Neue Hauptgruppe mit 42% aller Geburten
🟢 Grün (35-39) explodiert: Verdreifachung von 10% auf 29%
🟣 Lila (40+) wächst: Späte Mutterschaft wird normaler
Datenquelle: Amt für Wirtschaft und Tourismus Graubünden
Dataset: "Naschientschas vivas" (Lebendgeburten nach Alter der Mutter)
Das Geburtshaus Graubünden eröffnet im Frühjahr/Sommer 2027 in Chur und soll auf die kantonale Spitalliste kommen. Damit übernimmt die Krankenkasse alle Kosten – wie bei einer Spitalgeburt. Der konkrete Standort wird im Herbst 2025 bekannt gegeben, derzeit suchen die Initiatorinnen noch nach der nötigen Anschubfinanzierung. Das Haus wird nach dem Zwei-Hebammen-Prinzip arbeiten: Eine begleitet kontinuierlich, die zweite kommt im entscheidenden Moment dazu. Bei Komplikationen erfolgt die Verlegung ins nahegelegene Kantonsspital Graubünden.
Autor Julian Reich ist Redaktionsleiter der «Terra Grischuna». In der Serie «Zahlen, Daten, Menschen» stellt er interessante Zahlen und Menschen vor.