Weisse Arena
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Orts- und Flurnamen sind wesentliche Elemente des kulturellen Erbes einer Talschaft. Sie stehen in engem Bezug zur Geschichte, zur Topografie und zur Bodenbewirtschaftung. Sie widerspiegeln die Siedlungs- und Wirtschaftsentwicklung, sind Zeugen von Traditionen und Bräuchen und geben wichtige Hinweise auf das soziokulturelle Leben einer Gemeinschaft.
Die Lumnezia, das Lugnez, war seit jeher von der Landwirtschaft geprägt. In den letzten Jahrzehnten hat ein sanfter, nachhaltiger Tourismus im sonnigen Bergtal Einzug gehalten. Um der Berglandwirtschaft eine gesunde Zukunft zu sichern, wurden überall Güterzusammenlegungen durchgeführt, die Mechanisierung schritt voran, die Betriebe wurden grösser, die Anzahl der Parzellen und Betriebe sank markant und die Wirtschaftlichkeit stieg.
Doch durch die Vereinigung der alten Bewirtschaftungseinheiten drohen die alten Flurnamen in Vergessenheit zu gelangen. Um dieses alte Kulturgut zu erhalten, fassten wir den Auftrag, die Flurnamen zu sammeln, sie auf Landschaftsfotos zu lokalisieren und zu digitalisieren.
Ursprünglich waren die Flurnamen die einzige Möglichkeit, sich in der Landschaft zu orientieren. Sie wurden nur mündlich von Generation zu Generation weitergegeben.
Später wurden sie in Urbarien (Güterverzeichnisse), Testamente, Kauf- oder Tauschprotokolle schriftlich fixiert und in geografischen Karten und Katasterpläne integriert. Die Grundbuchvermessung bildete schliesslich eine wichtige Voraussetzung für die Erarbeitung von Raum- und Siedlungsplänen.
Die Flurnamen sind auch sprachlich eine wahre Fundgrube. Es gibt wohl keinen anderen Schweizer Kanton, dessen Flurnamen so gut erforscht sind, wie im dreisprachigen Kanton Graubünden. Bei der Interpretation über Herkunft und Bedeutung der Flurnamen lässt sich der Autor nicht von Spekulationen leiten, sondern verweist auf die seriöse und umfassende Forschungsarbeit von Andrea Schorta und andere im Rätischen Namenbuch.
In der Volkskultur nehmen Märchen und Sagen einen bedeutenden Platz ein. Als Bücher, Zeitungen, elektronische Medien und soziale Netzwerke in unseren Bergtälern noch unbekannt oder rar waren, hatten mündliche Erzählungen einen grossen Stellenwert. Sie machten vor allem an langen Winterabenden, bei Treffen der Bauern auf den Maiensässen oder beim Spinnen und Weben der Frauen in der Stube die Runde.
Nicht alle Erzählungen sind so einzigartig, wie es vielleicht den Anschein macht. Vieles ist auch importiert, angepasst und schliesslich assimiliert worden. Vor allem bei den Märchen stellt man im ganzen Alpenraum viele Gemeinsamkeiten fest.
Im Gegensatz zu den Märchen, die mit viel Fantasie ausgestattet sind, sind Sagen viel nüchterner und haben meistens einen konkreten lokalen und geschichtlichen Bezug. Das verleiht ihnen mehr Nähe, Aussagekraft und Glaubwürdigkeit. Während bei den Märchen gutmütige Wesen, wie Feen, Zwerge, Prinzessinnen usw. im Vordergrund stehen, dominieren bei Sagen vielfach böse Geister, Hexen, Drachen und Teufel die Szenerie. So können Sagen Angst und Schrecken, Schaudern und Beklemmung auslösen. Sagen verbreiten oft ein eher pessimistisches Weltbild, orientieren sich an öffentlichen Moralvorstellungen und wollen damit soziale Normen für das Leben in der Gemeinschaft festlegen. Auch davon erzählt das Buch «Lumnezia».
Als Gegengewicht zu diesem eher düsteren Kapitel vermittelt der Autor bewusst auch einige humoristische Einlagen wie unterhaltende Episoden über alte Fastnachtsbräuche, Spottlieder über die einzelnen Dörfer und alte Volksweisen. Im romanischen Sprachgebiet gab es etliche eifrige Märchen- und Sagensammler. Für das Lugnez waren es vor allem Caspar Decurtins, Arnold Büchli, Guglielm Gadola und Anton Derungs. Weil viele dieser Sagen heute für die breite Masse nicht mehr zugänglich sind, hat der Autor sie gesammelt, teilweise übersetzt und neu redigiert. Es kam eine stattliche Anzahl von rund 280 Sagen zusammen, die nun nach den jeweiligen Dörfern verteilt, im Buch öffentlich zugänglich sind.
Um ein Gesamtbild der Talschaft Lugnez zu vermitteln, umfasst das Buch eine kompakte Übersicht der Kulturgeschichte. Sie beginnt mit der prähistorischen Siedlung Crestaulta und verfolgt die politische Entwicklung der Talschaft von der feudalen Herrschaft der Belmonts, Sax Misox und den Bischof von Chur, über die Freiheits- und Selbstständigkeitsbestrebungen des Hochgerichts Lugnez und des Grauen Bundes. Im Mittelalter bildeten das romanische Lugnez mit der Walsersiedlung Vals zwei Gerichtsgemeinden mit einem Mistral oder Landammann an der Spitze. Der spätere zweisprachige Kreis Lugnez bestand ursprünglich aus 16 politischen Gemeinden. Daraus entstanden vor einem Jahrzehnt die beiden fusionierten Gemeinden Lumnezia und Vals. Duvin ging zu Ilanz Glion, Surcuolm zu Obersaxen Mundaun.
Kirchlich bildete das Lugnez ursprünglich eine Grosspfarrei mit der Talkirche Pleif als Zentrum. Nach sukzessiven Abspaltungen im Laufe der Jahrhunderte folgten in den letzten Jahren wieder Zusammenschlüsse zu grösseren pastoralen Einheiten. Auf dem Gebiet der fusionierten Gemeinde Lumnezia bestehen nicht weniger als 33 Kirchen und Kapellen, in Vals kommen weitere 16 dazu. Sie sind mit reicher sakraler Kunst ausgestattet, sodass man berechtigterweise von einer «Sakrallandschaft Lugnez» sprechen kann.
Zwei kulturelle Leuchttürme seien noch angefügt: Die Casa d’Angel in Lumbrein ist seit 2015 ein Ort, an dem die kulturellen Werte des Tales vermittelt werden. Zugleich will die Gemeinde damit den Austausch mit nationalen und internationalen Künstlerinnen und Künstlern fördern. In der zeitgenössischen Architektur geniesst der Vriner Architekt Gion A. Caminada einen grossen Bekanntheitsgrad.
Überhaupt hat das Lugnez kulturell einiges zu bieten. Lugnezer Theologen waren im 17. Jahrhundert Vorreiter der religiösen Literatur in der Surselva, in Cumbel war sogar ein Wanderdrucker tätig. Für die Fortsetzung der weltlichen Literatur sorgten im 20. Jahrhundert namhafte Schriftsteller wie Toni Halter, Ursicin G. G. Derungs, Leontina Lergier-Caviezel und andere. Auch das Chor- und Musikwesen wuchs im letzten Jahrhundert zu einer prächtigen Blüte. Zahlreich waren die Chöre und Musikgesellschaften in den Dörfern. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert zeigte sich aber, dass es immer schwieriger wird, die Tradition dieser kulturellen Vereine weiterzuführen. Auch Zusammenschlüsse bieten nicht immer Garant für den Weiterbestand. Dabei hat das Lugnez einige namhafte Komponisten vorzuweisen, wir erwähnen hier stellvertretend nur Gion Antoni Derungs, Gion Giusep Derungs, Flavio Bundi.
Das wirtschaftliche Leben im Lugnez war seit jeher von der Landwirtschaft geprägt. Da das landwirtschaftliche Einkommen aber die Existenz der mehrheitlich grossen Familien nicht sichern konnte, mussten viele auswandern. Sei dies als Soldaten in fremden Diensten, als Arbeitskräfte in Landwirtschaft, Gastronomie und Textilbranche in Italien, Frankreich und Amerika oder später als Saisonangestellte in der aufkommenden schweizerischen und bündnerischen Hotellerie. In Peiden Bad und Vals entstand in der Belle Epoque ein florierender Badetourismus, der aber während der beiden Weltkriege zum Erliegen kam. Im 19. Jahrhundert und bis zum 1. Weltkrieg verbrachten viele Kinder aus dem Lugnez die lange schulfreie Zeit als billige Arbeitskräfte im fernen Schwaben.
Mit der nach den 1970 Jahren sich langsam einsetzenden touristischen Entwicklung eröffneten sich für das Lugnez neue wirtschaftliche Perspektiven. Zuerst im Winter und in den letzten Jahren vermehrt auch in Sommer. Während die Parahotellerie in den Gemeinden des Vorderlugnez überhandnahm, fehlen nach wie vor leistungsfähige Hotelbetriebe, die der Region mehr Wertschöpfung bringen würden. Klagte man früher über fehlende Arbeitsplätze in der Region, hat man heute eher Mühe, die vorhandenen Arbeitsplätze in Gewerbe und Dienstleistungen mit einheimischem Personal zu besetzen. Trotz dieser eher trüben Aussichten wollen wir aber nicht in Pessimismus verfallen, sondern zuversichtlich in die Zukunft schauen. Denn das Lugnez ist nicht nur eine prächtige Ferienregion mit einer fabelhaften Naturlandschaft, sondern durchaus auch ein attraktiver Wohn- und Arbeitsort. 2013 erfolgte die Fusion von acht politischen Gemeinden zur neuen Gemeinde Lumnezia. Dieser politische Zusammenschluss kann heute gesamthaft als äusserst gelungen bezeichnet werden.
Autor Martin Cabalzar ist in Cumbel/Lumnezia aufgewachsen. Nach dem Sekundarlehrerstudium an der Universität Fribourg war er als Sekundarlehrer in Vella tätig. Er war 30 Jahre lang Redaktor und Chefredaktor der «Gasetta Romontscha» und der romanischen Tageszeitung «La Quotidiana».