Hoch hinaus
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Es war ein Morgen im September 1850, als drei Männer auf dem Morteratschgletscher standen und staunten. Johann Wilhelm Fortunat Coaz und seine Begleiter, die Brüder Jon und Lorenz Ragut Tscharner, waren bereits seit drei Stunden unterwegs durch Geröll und Eis, als sie ein Schauspiel beobachteten, das an Schönheit alles übertraf, «was mein Auge in der Gletscherwelt bisher gesehen», wie Coaz später schreiben sollte. Und weiter:
«Welch feenhafter Ort! Nichts als Eismassen um uns, umwölbt vom reinen blauen Himmel, die Sonne im Mittag. Die Gletscherwände, Thürmchen, Blöcke und tausend bizarren Eisgebilde, die ringsum den kleinen Horizont bildeten, glänzten im buntesten, blendendsten Farbenspiel, wie eine kolossale Diamant-Krone. Die Luft war licht und warm. Es war hier alles so rein, es herrschte eine so tiefe Stille, man wusste sich von allem Treiben der Welt so vollkommen abgeschlossen, dass uns eine feierliche Stimmung ergriff.»
Abgeschlossen vom Treiben der Welt waren die drei tatsächlich. Denn dass sie den verrückten Versuch unternehmen würden, den Piz Bernina zu besteigen, den einzigen 4000er der Ostalpen, wusste zu diesem Zeitpunkt kaum jemand.
Diese Aufgabe führte Coaz in alle Ecken Graubündens und entfachte seine Leidenschaft für das Bergsteigen. Coaz, ein Mann von bemerkenswerter Ausdauer und Gewissenhaftigkeit, war fasziniert von den unberührten Gipfeln, die auf ihre Erstbesteigung warteten. Der Piz Bernina, mit seinen 4049 Metern, war der höchste und prestigeträchtigste von ihnen. Zuvor hatte Coaz bereits den Piz Kesch (3418 m), den Piz Lischana (3105 m) und den Piz Quattervals (3165 m) erstbestiegen. Letzterer verdankt ihm seinen Namen.
Der Weg führte über den Morteratschgletscher, dessen zerklüftete Oberfläche eine erste grosse Herausforderung darstellte. Die Männer bewegten sich vorsichtig über das unebene, hart gefrorene Eis. Die Gletscherspalten, tief und bedrohlich, forderten ihre volle Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit. Hier war es, als Coaz die faszinierenden Blautöne des Eises, die die Spalten in ein fast übernatürliches Licht tauchten, erblickte.
Als sie die Geländestufe im inneren Teil des Gletschers erreichten, sahen sie sich einem Eisbruch gegenüber, der bald als «Labyrinth» bekannt werden sollte. Doch die Bergsteiger hielten nicht lange inne. Unermüdlich bahnten sie sich ihren Weg durch das Labyrinth aus Eis und Schnee.
Der letzte Abschnitt des Aufstiegs war der anspruchsvollste. Eine steile Gletscherwand erhob sich vor ihnen, die im Zickzack überwunden werden musste. Mit ihren Eispickeln hackten sie Tritte ins Eis, um Halt zu finden. Die Luft wurde dünner, die Anstrengung zehrte an ihren Kräften, doch der Gipfel war in greifbarer Nähe.
«Gierig schweifte nun der Blick über die Erde bis an den weiten Horizont, tausend und tausend Bergspitzen lagerten wie ein grosses Heer um uns. Erstaunt und zu gleich beklemmt sahen wir über dieses Bild grossartiger Gebirgswelt hin, wir suchten nach Bündens Thälern, seinen Flüssen, Wohnungen, aber einzig Samaden und Bevers sandten uns ein heimeliges Gefühl zu. Das übrige Bünden schien in Gletscher und rauhes Gebirg verwandelt und das grossartige, ernste Bild wurde in den Schleier des Schaurigen gehüllt.»
Die drei Erstbesteiger pflanzten die Schweizer Fahne auf und legten eine Flasche mit ein paar Bündner Münzen und einem Zettel mit ihren Namen in eine Vertiefung.
Der Abstieg erfolgte unter grossen Mühen über dieselbe Route. Gemäss der Routenbeschreibung von Coaz erbarmte sich ihrer «der gütige Mond», sodass sie nachts um 2 Uhr, 20 Stunden nach dem Aufbruch, wohlbehalten wieder im Gasthaus Bernina ankamen.
Die Erstbesteigung des Piz Bernina machte Johann Coaz zu einem gefeierten Alpinisten– doch nicht schlagartig. Als die drei spätnachts wieder im Tal waren, glaubte man ihnen ihren Bericht zunächst nicht. Sondern erst, als man Coaz’ Fahne erspähte, die er auf dem Gipfel gelassen hatte. Seine Berichte über die Alpen trugen wesentlich zur wissenschaftlichen Erschliessung der Region bei. Als eidgenössischer Oberforstinspektor setzte er sich später für den Schutz der alpinen Landschaften ein und trug zur Gründung des Schweizerischen Nationalparks bei. Doch das ist eine andere Geschichte.
Julian Reich ist Redaktionsleiter der «Terra Grischuna». julian.reich@somedia.ch