Weisse Arena
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«Was wirklich modern ist, harmoniert mit alt.» Dieser Satz Rudolf Olgiatis (1910–1995) könnte als Leitspruch über dem «Las Caglias» stehen, jenem Apartmenthaus in Flims, das der Architekt vor 65 Jahren errichtete. Während sich seither die Ansprüche ans Wohnen fundamental gewandelt haben, scheint Olgiatis Vision zeitloser denn je: die Verschmelzung von Tradition und Moderne, von Funktion und Poesie.
Gegensätze prägten Olgiatis Werk und Leben. Der Mann war ein Spezialfall, ein Solitär, ein Querdenker im besten Sinne: Er trat für das Eigene ein, aber nicht um des Eigenen willen. Er stritt mit Beamten und Denkmalpflegern, erhielt dennoch den Bündner Kulturpreis. Er achtete die regionalen Traditionen, entwickelte zugleich eine davon losgelöste Architektursprache. Und: Er prägte die Bündner Architektur bis heute.
Also, wie schläft es sich in einem Olgiati-Zimmer? Wir machen die Probe und buchen ein Zimmer in der «Casa Las Caglias». Studio Nummer 8, «Suvi Cotschen», ist unseres. Ein grosses hölzernes Bett, eine schmale Küchenzeile, ein ebenso schmales Buffet, ein Tisch, zwei Stühle, eine kleine Duschnische. Hell ist es, die ganze Front zum Balkon hin ist Glas. Wir treten hinaus und schauen direkt in Richtung Süden. Die Sonne wärmt.
Im Haus begrüsst hat uns zuvor Patrick Pfleger, der es seit 2022 gemeinsam mit seiner Partnerin Claudia Cadonau besitzt und betreibt. Sie übernahmen das «Las Caglias» von den langjährigen Vorbesitzern Therese Augsburger und dem Architekten Jürg Spörri. Auch Patrick Pfleger ist Architekt. Vielleicht muss man das sein, um die Eigenheiten dieses Hauses schätzen zu können?
Olgiati war bekanntlich keine ganz einfache Person. Kompromisse ging er keine ein. Im Gebiet Las Caglias musste er das auch nicht: Olgiati hatte grosse Flächen in diesem von Wiesen und Büschen – davon der Name – geprägten Gebiet geerbt. Sein Bruder Guido, ein Jurist, ermöglichte es Rudolf, hier 1951 ein erstes Haus nach eigenen Plänen zu errichten. Es sollte so etwas wie ein Musterhaus werden für die 16 weiteren, die bis 1974 folgen sollten. Die meisten davon waren (und sind) Zweitwohnsitze.
Das Appartmenthaus «Las Caglias» von 1959/1960 gilt als Hauptwerk. Zunächst betrieb es Olgiati respektive seine Frau selbst. 1972 kam die «Casa Radulff» hinzu, ein Mehrfamilienhaus, das an das Apartmenthaus «Las Caglias» angebaut und innen mit diesem verbunden ist. Die «Casa Radulff» enthält acht Eigentumswohnungen, ein Café und einen Pool.
Einen Pool? Wir gehen schwimmen. Das Schwimmbecken liegt zur Hälfte innerhalb, zur Hälfte ausserhalb des Gebäudes, abgetrennt von einer grossen, schiebbaren Glasscheibe. Die Öffnung ist oben gerundet, wie viele von Olgiatis Toren. Das Wasser ist nicht warm, nicht kalt. Ganz anders, als es der temperamentvolle Architekt gewesen sein muss.
Olgiatis Häuser fügen sich wie kleine Skulpturen in die Landschaft von Flims. Kubische Formen, makellos weisse Mauern, Fenster, die scheinbar unregelmässig platziert sind – all dies kennzeichnete seine Architektursprache. Doch es ging ihm nicht nur um Form, sondern um Wirkung: Wie wirkt ein Gebäude im Licht der Sonne? Wie fügt es sich in die Umgebung ein? Und wie wird es von den Menschen wahrgenommen? Olgiatis Konzept der «optischen Sachlichkeit» rückte die visuelle Wahrnehmung in den Mittelpunkt – eine Architektur, die nicht nur funktional, sondern sinnlich erfahrbar ist.
Wir erfahren das, als wir im Wasser liegen und die Fassade hochblicken, in der die Fenster keine Regelmässigkeit bilden. Wir erfahren es, als wir vom Pool wieder hoch Richtung Zimmer gehen. Die Treppe führt auf verwinkelte Weise durch das Innere des Gebäudes. Immer wieder wechseln wir die Richtung und kommen in neue Räume, die keiner geometrischen, sondern einer organischen Ordnung folgen.
Im Zentrum der «Casa Las Caglias» liegt ein Raum, der so von Olgiati nicht gedacht worden war, sondern erst später zum Mittelpunkt des Gästehauses wurde. Ein grosser Tisch dominiert ihn, dahinter eine moderne Kücheneinrichtung. Eine der «Interventionen» – so nennt man es in Architektursprache – der heutigen Besitzer. Pfleger und Cadonau bewohnen das Haus oft auch selbst, teilen ihre Räume und ihre Zeit mit den Gästen. Gerade architekturinteressierte finden immer wieder den Weg nach Flims. Und der Eigentümer erzählt gern über das Haus, das er mittlerweile so gut kennt wie kein Zweiter.
Vom zentralen Aufenthaltsraum geht die Treppe hoch in jene Etage, in der Olgiati das Wohnzimmer ansiedelte. «Für ihn begann das Haus eigentlich erst hier», erklärt Pfleger. Die unteren Etagen galten vor allem der Technik und als Keller. Das Wohnzimmer liegt zwar im dritten Stock, geht jedoch ebenerdig hinaus in den Garten. Denn das Haus ist quasi an und in den Hügel gebaut, auf dem es steht.
Die Decke des Wohnzimmers ist leicht durchgeschwungen und weitet sich gegen den Garten hin in die Höhe. Der Architekt hatte den Raum so entworfen, dass im Winter die Sonne die hintere Stubenwand bescheint und so erwärmt. Im Sommer jedoch erreicht die Sonne die Fensterscheiben just nicht. «Dieses Bauen mit dem Wissen um die Sonnenwärme war für seine Zeit ziemlich aussergewöhnlich, ja pionierhaft», weiss Pfleger, der sich selbst intensiv mit nachhaltigen Bauweisen auseinandersetzt.
Die Inspirationen, die Olgiati prägten, waren vielfältig: Die klaren, funktionalen Formen der Neuen Sachlichkeit; die Bündner Bautradition, wie sie im Engadin vorherrscht; die klassische Antike, deren Formensprache er während seiner prägenden Studienjahre in Rom in sich aufsog; und die Moderne, insbesondere Le Corbusier.
Olgiati kondensierte diese Einflüsse auf das Wesentliche, auf das, was bleibt. Auf jene ästhetischen Grundprinzipien, die sich über die Zeiten erheben. Denn, wir erinnern uns: «Was wirklich modern ist, harmoniert mit alt.» So wird er im Standardwerk «Rudolf Olgiati. Bauen mit den Sinnen», zitiert. Die Publizistin Ursula Riederer hat es 2005 veröffentlicht, eine feinsinnige Analyse seines architektonischen Schaffens, die weit über eine blosse Werkschau und Biografie hinausgeht. Riederer hatte zuvor schon einen Film über den streitbaren Flimser gedreht und zahlreiche Interviews mit ihm geführt, woraus die Buchidee entstand.
Wer im «Las Caglias» übernachtet, kann es sich im Wohnzimmer gemütlich machen und in diesem schönen Buch blättern. Wir gehen fürs Erste hoch ins Zimmer. Und bestaunen die Möbel in unserem Zimmer. Das alte Holz, die Stabellenstühle, die Retroküche und das massive Bett. Und wir merken: Für Olgiati war Architektur mehr als nur das Erschaffen von Wohnraum. Sie war ihm kulturelle Verantwortung.
Rudolf Olgiati sammelte alte Baumaterialien und Möbel, die er in seinen Neubauten wiederverwendete, und schuf so eine Brücke zwischen Alt und Neu. Darunter eine breite Palette von historischen Bauelementen, die von Türen und Fenstern bis hin zu Truhen und Stühlen reichten. Diese Sammlung lagerte er neben seinem Wohnhaus in einem Stall. Olgiati sah sich selbst weniger als Sammler, sondern als Magaziner, und die architektonischen Gegenstände sollten in seinen Bauten wieder einen neuen Platz finden. Ihm ging es weniger um das Archivieren als um das Aufbewahren und Wiederverwenden und darum, wie man früher mit solchen Dingen umgegangen war. Sein Magazin war eine Art Bauteilbörse.
Nach Olgiatis Tod 1995 übernahm eine Stiftung die Sammlung und inventarisierte die 3000 Objekte. Die Öffentlichkeit bekam sie kaum zu sehen. Bis heute. Remo Derungs ist Präsident der Olgiati-Stiftung – und zugleich Lebens- und Arbeitspartner von Carmen Gasser. Gemeinsam betreiben sie ein Innenarchitekturbüro in Zürich und Chur. Und sie sind für das Programm des Gelben Hauses zuständig.
1999 wurde dieses nach Plänen Valerio Olgiatis – Rudolfs Sohn – umgebaut und als Ausstellungshaus eröffnet. Der ebenfalls als Architekt tätige Valerio Olgiati ist mittlerweile international erfolgreich. Und einer jener Baukünstler, deretwegen eine steigende Anzahl Architekturtouristen nach Graubünden pilgert.
Daniel Walser hat die Ausstellung kuratiert. Er ist Professor für Architektur an der Fachhochschule Graubünden. Zum ersten Mal lernte er Olgiatis Werk vertieft kennen, als er an Ursula Riederers Publikation mitarbeitete. Seither begleitet ihn die Auseinandersetzung mit Olgiatis Architektur. Und verhilft ihm zu einem geschärften Blick auf das zeitgenössische Bauen, und nicht nur auf jenes Graubündens.
«Olgiatis Architektur ist eine Schule des Sehens», meint Walser – und gerade deshalb auch für heutige Architekturstudenten wertvoll. Was Walser seinen Studierenden auch stets zu vermitteln versucht. Zu lernen sei etwa, wie ein Ort funktioniere, wie er Architektur mitpräge, wie diese umgekehrt Orte erschafft und sie lesbar macht. «Es ist einfach gute Architektur», meint Walser.
Zugleich zeitlos wie zeitgenössisch ist Olgiatis Praxis, nicht mehr verwendete Bau- oder Ausstattungsteile einzulagern und später wiederzuverwenden: «Damit landet man plötzlich mitten im aktuellsten Architekturdiskurs, in dem es stark um Nachhaltigkeit geht», erklärt Walser. Auch wenn Olgiati selbst schlicht pragmatisch vorging – und so, wie man es in ländlichen Gebieten über Jahrhunderte pflegte: Dinge waren wertvoll; jede Generation gab sie weiter und schätzte sie von Neuem. Eigentlich genau so, wie es heute mit Olgiatis Gebäuden getan wird.
Zurück also ins «Las Caglias», zurück ins Zimmer 8, dem «Suvi Cotschen», der roten Suite. Wir legen uns auf die Matratze, löschen das Licht. Der Schlaf ist tief, die Zeit nicht wahrnehmbar. Der Morgen kommt schnell. Wir erwachen und denken: Olgiatis Architektur mag 65 Jahre alt sein, doch zeitlos auch.
Neben dem «Las Caglias» in Flims gibt es eine weitere Möglichkeit, in von Rudolf Olgiati entworfenen Räumen zu übernachten: Seit 2020 kann in Malans eine Wohnung in einem von ihm umgebauten Patrizierhaus gemietet werden. Die Wohnung wird über die Plattform «Ferien im Baudenkmal» angeboten und ist für bis zu sieben Personen ausgelegt.
ferienimbaudenkmal.ch
Die «Casa Las Caglias» ist buchbar unter: www.casalascaglias.com
Die Ausstellung im Gelben Haus Flims dauert bis 21. April 2025.
dasgelbehausflims.ch
Das Buch «Bauen mit den Sinnen» von Ursula Riederer ist erhältlich im Shop der FHGR.