Forschen und bewahren
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Jean Cocteau bestellte zwei Stühle – mehr wollte er nicht. Jedoch nicht, weil sie ihm nicht gefallen hätten, im Gegenteil: Der französische Autor und Filmemacher erfreute sich so sehr an der «unbezahlbaren Eleganz» von Diego Giacomettis Stühlen, dass «ich sie nicht als einfache Möbelstücke ansehen kann, sondern als Kunstwerke», wie er 1959 in einem Dankesbrief an den Designer schrieb.
Cocteaus Urteil war seiner Zeit voraus. Diego Giacometti (1902–1985) wurde stets in zwei Rollen wahrgenommen: Er war der jüngere Bruder von Alberto, dem Weltkünstler; und er war der Handwerker der beiden, als Assistent von Alberto und als Macher von Möbelstücken, vom Türgriff bis zum Lampenschirm. Kunstgewerbe eben. Weshalb sein Werk stets in Gewerbemuseen gezeigt wurde: 1986 im Musée des Arts décoratifs in Paris; 1988 im Museum Bellerive in Zürich; 2007 im Gelben Haus in Flims; und zuletzt 2023 in der Fondazione Luigi Rovati, wo er als «Diego, l’altro Giacometti» vorgestellt wurde.
Die Zeit ist reif
Nun, 2025, sei die Zeit reif, «das Werk von Diego Giacometti in einem Kunstmuseum auszustellen und als eigenständiges künstlerisches Werk zu entdecken», schreibt Stephan Kunz, Direktor des Bündner Kunstmuseums, im Katalog der aktuellen Ausstellung in Chur. Die Ausstellung ist als umfassende Retrospektive angelegt, «die einem Künstler gewidmet ist, der sich gekonnt zwischen angewandten Arbeiten und freier Kunst bewegte».
Die Ausstellung stellt Diego – er signierte meist ohne Nachnamen – buchstäblich aufs Podest. Ausgedacht vom Künstler Václav Pozárek dienen Stellflächen in kühlem Blau als Präsentationsplattformen. Auch sie sagen: Schaut her, das ist Kunst, und nicht einfach Mobiliar.
Mit diesem Statement lässt die Diego-Ausstellung an die Ende letzten Jahres in Chur gezeigten Arbeiten von Lise Gujer denken, die ja ebenfalls lange nur als ausführende Hand eines echten Künstlers gesehen worden war, nämlich Ernst Ludwig Kirchner. Oder an die Ausstellung «Kunst und Stickerei» im Jahr 2022. Mit der Ausstellung hinterfragt das Bündner Kunstmuseum zum wiederholten Mal die traditionelle Abwertung von angewandter Kunst. Diese Hierarchie ist längst überholt, und Diego Giacometti ist ein Beleg dafür.
Die Ausstellung, respektive die vom Giacometti- Experten Casimiro Di Crescenzo angestellten Recherchen zu Diegos Œuvre, bringen die eine oder andere neue Erkenntnis ans Licht. So zeichnet Di Crescenzo in seinem Katalogbeitrag die frühen gemeinsamen Objektarbeiten von Diego und Alberto nach, die sie für den einflussreichen Innenarchitekten Jean-Michel Frank (1895–1941) erstellten. Schon damals war Diego jedoch auch eigenständig tätig.
Nach dem Krieg übernahm Diego den dekorativen Zweig der Produktion aus dem «Atelier Giacometti», wie man die Kollaboration der Brüder fast nennen möchte. Und er entwickelte ab den 1950er-Jahren sein charakteristisches Repertoire: von filigran-skulpturalen Sitzmöbeln über Leuchten bis zu dekorativen Elementen, die oftmals Tierfiguren zeigten. Die Anfragen mehrten sich, und Diego hatte bald mehr Aufträge, als er ausführen konnte. Daneben war er für die Ausführung der Bronzen seines Bruders besorgt.
Diego Giacometti im Atelier, 1985 (Foto Martine Franck, Pro Litteris)
Die grossen Aufträge
Für die 1964 eröffnete Stiftung des Ehepaars Maeght in Sain-Paul-de-Vence, wo die hochkarätige Sammlung der Mäzene zu sehen ist, gestaltete Diego ein komplettes Interieur-Ensemble. Aufträge ka-men auch vom Musée national Marc Chagall (1973) und der Delegation der Schweiz bei der OECD, für deren Sitz in Paris er eine grosse Anzahl an Möbeln anfertigt. Im Alter von fast 80 Jahren dann der grösste Auftrag, der auch sein letzter sein wird: Er wird gebeten, die dekorative Gestaltung des neuen Museé Picasso in Paris zu übernehmen.
Für das Museum schuf Diego eine Reihe spezifischer Objekte, darunter verschiedene Kronleuchter. Diego wählte für die Kronleuchter Harz als Material, da es leichter als Bronze ist, was wichtig war, da die Decken die Last von lackierten Bronzeleuchtern nicht hätten tragen können. Wieder gestaltete er Bänke, Stühle, Tischchen und Stehlampen.
Die Eröffnung des Picasso-Museums erlebte Diego nicht mehr mit, er starb zwei Monate zuvor, am 15. Juli 1985 in Paris. Nach seinem Tod ging der Grossteil seiner noch im Atelier befindlichen Objekte an das Musée des Arts décoratifs in Paris über.
Aus dessen Fundus sind in Chur die bisher selten gezeigten Modelle für die Leuchter des Picasso-Museums zu sehen. Sie machen zugleich den Auftakt zur Ausstellung, nach deren Besuch man gerne die Worte sagen dürfte, die Stephan Kunz zu Diegos Werk gewählt hat: «Wer sich mit seinen Möbeln umgibt, weiss dass ein Salon-Tisch von ihm nicht nur ein praktisches Möbel ist, sondern immer auch als Skulptur im Raum steht, wer sich auf einem seiner Stühle niederliess, sass stets kunstvoll.»
Ausstellung bis 9. November 2025. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen. Online www.kunstmuseum.gr.ch