Der Bündner Gottesmann, der Appenzell mitprägte

Der Bündner Pfarrer Bonifatius Räss war eine prägende Figur in der Appenzeller Geschichte um 1900.

In seinem Geburtskanton Graubünden ist die Erinnerung ­an ihn verblasst. Doch dort, wo er zeitlebens gewirkt hat, ist sein Name bis heute präsent: Ohne Pfarrer Bonifatius Räss (1848–1928) hätte Appenzell sein Kollegium St. Antonius 1908 kaum bekommen. Und nicht nur das.
Text 
Jano Felice Pajarola
Bilder 
Sammlung Romano Plaz

Als er im Juli 1888 die Pfarrei St. Mauritius im Innerrhoder Hauptort Appenzell übernimmt, bringt er aus seiner ­alten Heimat mehr als sein charakteristisches Churerdeutsch mit. Da ist auch eine Idee, ein Auftrag. Bekommen hat er ihn, so berichten es die Quellen, von keinem Geringeren als Pater Theodosius Florentini (1808–1865). Der nämlich soll seinerzeit als Pfarrer am Churer Hof oft gesagt haben: «In Appenzell sollten wir ein Kollegium haben.» Er, Bonifatius Räss, war zu diesem Zeitpunkt noch ein Schulkind, Sohn des Appenzeller Bürgers Bonifaz Räss und der Maria-­Agata Räss-Pool aus Savognin. Keine wohlhabende Familie, Grossvater Pool war Postillion am Splügenpass gewesen, Vater Räss arbeitete als Schneider am Churer Priesterseminar. 

Eine Illustration aus dem Jahr 1916, angefertigt zu Bonifatius Räss’ Namenstag, zeigt das wenige Jahre zuvor erbaute Kollegium St. Antonius.

Hand angelegt – «selber und sofort»

Doch der Kapuziner Florentini hatte den Jungen unter seine Fittiche genommen, die «Priestersehnsucht» in ihm erkannt. Der Pater half den Eltern bei der Finanzierung der Lateinstunden für ihren Ältesten, und 1861 konnte der 13-Jährige ins Kollegium in Schwyz eintreten. 1866, ein Jahr nach Florentinis Tod und kurz nach dem Verlust der Mutter, zog es ihn zum Studium der Philosophie nach Italien, nach Monza, danach folgten theologische Unterweisungen in Mailand, Chur und Innsbruck, bevor er 1871 in der Diözese St. Gallen die Priesterweihe empfing. Die Weichen waren gestellt.

1871, mitten in der Zeit des Kulturkampfs, bekam der Bündner seine erste Stelle als Pfarrer, und zwar in Mels. Als dort der spätere «Sarganserländer» gegründet wurde, ein damals «katholisch-konservatives Blatt» zur «Festigung, allseitigen Beleuchtung und Einschärfung der katholischen Überzeugung», wurde der junge Räss «dessen erster zielsicherer, schlagfertiger Redaktor». So wird es Kapuzinerpater Erich Eberle viele Jahre später schreiben, in einem biografischen Rückblick unter dem Titel «Ein edles Priesterleben». Der Kaplan, so Eberle, habe mit diesem Engagement bereits einen «hervorragenden Zug seines Wesens» offenbart, nämlich «nach klarer Überlegung nicht bei toten Wünschen und Vorschlägen stehen zu bleiben, sondern Hand anzulegen» – und zwar «selber und sofort».

Mit einem poetischen Willkommensgruss und einer Zeichnung von Savognin wurde Bonifatius Räss 1916 bei seiner Rückkehr nach Appenzell begrüsst.

Ein Fundraiser von Gottes Gnaden

So tut er es 1890 auch in Appenzell. Als Erstes nimmt er die dringend nötige Renovation der Pfarrkirche an die Hand, es folgen diverse Kappellenerneuerungen, der Bau eines Armenhauses, die Realisierung einer Bergkapelle auf der Meglisalp für die Sennen und den aufkeimenden Tourismus. Was bei all dem auffällt: Der Bündner ist nicht nur enorm einsatzfreudig in Kommissionen und karitativen Ämtern, ist nicht nur rührig als Mitarbeiter des katholischen «Appenzeller Volksfreunds», er scheint auch ein Fundraiser von Gottes Gnaden zu sein, ein unermüdlicher Gabensammler. 
Eberle wird später feststellen: «Es war überhaupt ein Geheimnis an ihm, er kam oft fast wunderbar zu Geld.» Und Kirchenhistoriker Franz Stark: «Pfarrer Räss wusste Begeisterung zu wecken.» Bei der Erneuerung der Pfarrkirche sei es sein Bestreben gewesen, das Kirchenvermögen «so wenig als möglich zur Finanzierung zu benützen, dafür aber durch freiwillige Gaben die Ausführung zu erleichtern». Letztlich kommt die gesamte Innenrestaurierung durch solche Zuwendungen zustande.
Um die wichtigste Stütze in diesem Bestreben ranken sich allerdings keine Geheimnisse, ihre Identität ist wohlbekannt: Es ist die vermögende Innerrhoderin Marie Fässler (1825–1905). Bei der Renovierung der Pfarrkirche beispielsweise spendet sie eine von Räss nach gotischem Churer Vorbild in Auftrag gegebene Turmmonstranz für rund 7700 Franken. Zum Vergleich: Die 32 Register starke neue Hauptorgel kostet mit 14 000 Franken nicht einmal das Doppelte. Auch die Meglisalp-Kapelle finanziert die Donatorin entscheidend mit. Und schliesslich Räss’ wichtigstes Werk, den Auftrag des Paters Theodosius. Nachdem er den Ausbau der Mädchenrealschule in Appenzell bewirkt hat, will er auch für die Mittelschulbildung der männlichen Jugend aktiv werden. Der junge Landammann Johann Baptist Emil Rusch ist begeistert, unterstützt den Pfarrer, doch 1890 stirbt der Politiker unerwartet, Räss muss die Grabrede halten. Seine Pläne begräbt er nicht.

 

Ein folgenreicher Spaziergang

Ein Augustnachmittag im Jahr 1903 wird entscheidend für das Projekt. Räss’ Freund und späterer Nachfolger, Pfarrer Andreas Breitenmoser, erzählt davon in seinen Aufzeichnungen: Bei einem Ferienaufenthalt in der Villa Kreuzhof bei seiner geistlichen Mutter Marie Fässler geht er mit dem Bündner spazieren. Dabei erzählt ihm dieser von seinen Plänen, ein Progymnasium mit Realschule zu errichten, geleitet von Kapuzinern. Die Besprechung wird immer reger, und schliesslich beschliessen die beiden, das Fräulein einzuweihen. Deren Reaktion, wie Breitenmoser sie schildert: «Da mache ich mit Freuden mit. Die liberale Realschule, die anno 1870 gegründet wurde, hat mir schon lange auf die Nerven gegeben.» Sie spendet ganze 50 000 Franken und bewegt ihren Cousin Gustav Fässler dazu, dasselbe zu tun. Der Bau ist damit so gut wie gesichert.

Räss’ Beweggründe für das Projekt zitiert der damalige Innerrhoder Archivar Hermann Bischofberger 1999 in einer Festschrift zur Geschichte des Appenzeller Gymnasiums: Der moderne Verkehr und das zunehmende Aufblühen des Tourismus, so der Bündner, hätten Innerrhoden an die Schwelle einer neuen Ära gebracht, und wolle das Ländchen sein «treu katholisches Wesen» bewahren, statt von einem fremden – liberalen – Geist überflutet zu werden, brauche es diese Bildungsinstitution, auch im Interesse der gesamten katholischen Ostschweiz. Im Gründungsübereinkommen mit der Schweizer Kapuzinerprovinz heisst es denn auch, die Schule bleibe unabhängig von staatlicher Aufsicht und Inspektion. 

«Sieg des Systems Innerrhoden»

1907 folgt unter Architekt August Hardegger der Baustart, 1908 wird das Kollegium eröffnet. Die Folge: In der liberalen Dorfrealschule melden sich nur zwei Schüler an. Eine Mehrheit des kantonalen Parlaments erklärt die Institution daraufhin – gegen die massive Opposition der Liberalen – als «eingegangen». Räss’ neues Gymnasium hingegen hat über zwei Dutzend Anmeldungen. Sogar von protestantischen Eltern.

Natürlich kommt es zu teils heftigen Reaktionen. Die nationale Lehrerzeitung hält laut Bischofberger fest: «Die gesamte höhere Schulung der Jugend ist damit der Geistlichkeit überliefert, die darüber wachen wird, dass der ­Mo­dernismus an der Grenze Inner-Rhodens Halt machen wird.» Und das «Tagblatt der Stadt St. Gallen» meint zum «Sieg des Systems Innerrhoden», im Kollegium solle wohl «den künftigen Landesbeamten die ‹richtige Gesinnung› unaustilgbar beigebracht werden». Wie auch immer: Räss hat mit seiner Schulgründung Erfolg, schon 1910 und 1915 werden aus Platzgründen Erweiterungen nötig. Kirchenhistoriker Stark rühmt den Pfarrer: «Mit grosser Weitsicht hat der Gründer für sein Land und Volk gesorgt und somit durch Förderung der Bildung und des Schulwesens Unschätzbares geleistet.» Die Errichtung des Kollegiums sei «die Krone der Werke», die Räss seiner kleinen Heimat geschenkt habe.

Spiritual im Churer Kreuzspital

Der Bündner selbst allerdings zieht sich noch im Jahr der Eröffnung zurück, er resigniert als Pfarrer von Appenzell im August 1908, wird Geistlicher in der kleinen Gemeinde Bernhardzell, und 1912, körperlich zunehmend ermüdet, kehrt er zurück in seine alte Heimat, er wird Spiritual im Churer Kreuzspital. Um 1916 schon wieder umzuziehen, zuerst nochmals nach Appenzell, 1920 schliesslich ins Priesterheim Altstätten. 1921 ernennt ihn Papst Benedikt XV. zum Geheimkämmerer und damit zum Mitglied des päpstlichen Hofstaats. Räss ist dankbar, macht aber kein Aufhebens um den Titel. Um ihn für seine Verdienste als Gründer und Gönner des Kollegiums Appenzell ehren zu können, muss die Schule zu einem Trick greifen. Er folgt der Einladung zum aktuellen Schlussexamen der Schule – und findet sich zuletzt völlig unerwartet in einer Würdigungszeremonie für seine Leistungen.

Am 11. April 1928 stirbt der Bündner in Altstätten. Am folgenden Tag wird seine Leiche ins Pfarrhaus von Appenzell überführt und dort aufgebahrt. «Das Volk von Appenzell», erinnert sich Räss’ Freund Eberle, «kam zahlreich, vor der friedlichen Leiche zu beten» und «dankbar Abschied zu nehmen». Was bleibe, sei «die wunderbar reiche Ernte eines aussergewöhnlichen Priesterlebens».

Der Savogniner Romano Plaz ist ein unermüdlicher Sammler von Informationen zur Person von Bonifatius Räss. Sein Grossvater war ein Neffe des Priesters. (Foto: Jano Felice Pajarola)

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Autor Jano Felice Pajarola ist Redaktor der Zeitungen «Südostschweiz» und «Bündner Tagblatt». janofelice.pajarola@somedia.ch