«Mich lässt das eher am Menschen zweifeln»

«Im Mittelmeer spielt sich eine Tragödie ab»: Die Pfarrerin und Journalistin Constanze Broelemann. (Foto: Ella Mettler)

Constanze Broelemann und die Seenotrettung im Mittelmeer
Die Pfarrerin Constanze Broelemann war als Journalistin an Bord eines Seenotrettungsschiffs im Mittelmeer. Ein Gespräch über Kirche, Politik und Baden im Mittelmeer.
Text 
Julian Reich

Constanze Broelemann, Sie haben 2020 vier Wochen auf einem Seenotrettungsschiff im Mittelmeer verbracht. In dieser Zeit hat Ihr Schiff mehrere Hundert Menschen aus dem Meer gezogen, die die Überfahrt nach Europa gewagt hatten und dabei ihr Leben riskierten. Sie haben viel Leid gesehen – zweifelt man da als Pfarrerin auch einmal an Gott? Oder eher an den Menschen?

Mich lässt das eher am Menschen zweifeln. Die Zustände im Mittelmeer sind sicher nicht gottgewollt, wir sind selber verantwortlich dafür, dass es extreme Ungerechtigkeit auf der Welt gibt. Wir haben Leute aus dem Wasser gezogen, die nur das besitzen, was sie am Leib tragen. Es gibt diese Parallelität der Lebenswelten, hier der Wohlstand, dort grosses Leid, und trotzdem leben wir zur gleichen Zeit. In dieser Deutlichkeit habe ich das vorher nicht wahrgenommen, die Erfahrung hat meinen Horizont definitiv erweitert.

Wie kommt man von so einer Reise zurück in den kuschligen Schweizer Alltag?
Es lässt einen so schnell nicht los, das ist sicher. Das Thema ist für mich nicht einfach erledigt. Ich mache Vorträge und schreibe darüber. Denn das Leben hier ist nicht die einzige Realität, die es gibt. Und ich merke, dass es ein Interesse gibt an diesem Thema, die Leute hier lässt das nicht kalt.

 

Wurden Sie auch ein Stück weit politisiert?
Das sicher auch. Es ist nicht so, dass ich selber in meiner Biografie nur leichte Zeiten hatte, ich habe auch Krisen erlebt. Aber diese stehen in keinem Vergleich mit dem, was die Menschen, die die Überfahrt nach Europa wagen, erlebt haben. Ich bin aber nicht parteipolitisch engagiert, sondern versuche zu kommunizieren, dass es so nicht weitergehen kann.

Was meinen Sie, wenn Sie sagen: Es kann so nicht weitergehen?
Im Mittelmeer spielt sich eine Tragödie ab. Es gibt keine staatlich koordinierte Seenotrettung mehr, das geschieht heute alles auf privater Initiative. Die Italiener, Spanier und Griechen, bei denen die Migranten ankommen, sagen zurecht: Das ist ein europäisches Problem. Aber es gibt nun mal europäische Staaten, die niemanden aufnehmen wollen. Es gibt auch keine sicheren Fluchtwege. Politisch stagniert das Thema komplett.

Sie sind nicht nur Journalistin, sondern auch Pfarrerin, und als solche gewissermassen Repräsentantin Ihrer Kirche. Wie politisch darf Kirche sein, wie politisch soll sie sein?
In der Schweiz wird es nicht gern gesehen, wenn sich die Kirche politisch positioniert. Doch ich finde, dass die Kirche an Relevanz verliert, wenn sie nicht Stellung bezieht. Das Evangelium spricht von Nächstenliebe, und genau das ist die Seenotrettung doch. Das ist eine diakonische Aufgabe. Es ist ein sehr kirchliches Thema, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen. Letztlich gibt es keinen unpolitischen Raum, und die Kirche ist Teil der Gesellschaft. Sie kann eine Art Wächteramt einnehmen und immer wieder darauf hinweisen, sensibilisieren: Das Mittelmeer ist nicht nur ein Badestrand, sondern auch ein Massengrab.  

 

Wie setzen Sie das in Ihrem Alltag als Pfarrerin um?
Ich bin ja auf dem Land im Pfarramt tätig, und im Konfirmandenunterricht treffe ich zumeist auf gut behütete Kinder. Wir haben beispielsweise ein Seenotrettungsspiel gemacht, bei dem sie verschiedene Rollen einnehmen mussten, als Bürgermeister, Helfer, Flüchtlinge. Das hat schon etwas bewegt, etwa das Nachdenken über die eigenen Privilegien.

Muss sich die Kirche bewegen? Und wenn ja, wohin?
Sie könnte sicherlich noch viel mehr auf die Menschen zugehen, ihnen zuhören. Und einen Weg suchen, wie man die Wünsche und Bedürfnisse von heute mit den alten Traditionen verbinden kann. Die Reformierte Kirche hat eine lange soziale Geschichte und diese verpflichtet auch heute noch, sich zu engagieren.

Aber was heisst das denn, auf die Menschen zugehen?
Eigentlich müsste man schon dort sein. Vielleicht ist das Modell des Dorfpfarrers eben doch noch sehr tauglich, gerade in einem Gebiet wie Graubünden, das letztlich in Dörfern strukturiert ist. Natürlich ist das nicht mehr so einfach, es gibt einen Mangel an Pfarrpersonen, Kirchgemeinden werden fusioniert. Denkbar sind deshalb auch andere Modelle, in denen die Pfarrperson nicht mehr alles selber macht, sondern die Menschen so bestärkt sind, dass sie selber Projekte anreissen und durchführen und die Pfarrperson eher eine Coachingrolle einnimmt. Aber das kommt natürlich auf das Talent des Einzelnen an.

Und was ist Ihr Talent, Ihre Aufgabe? Auf die Flüchtlingsthematik aufmerksam zu machen?
Das ist sicher etwas, das mich weiter begleiten wird. Ich versuche schon, die Erlebnisse und Erkenntnisse, die ich in diesem Thema gemacht habe, hier in der Schweiz miteinfliessen zu lassen. Aber ich bin auch so als Ausländerin in der Schweiz für bestimmte Themen etwas mehr sensibilisiert, eben weil ich nicht von hier stamme. Ich habe deshalb einfach ein anderes Verständnis für das Ausländersein.

 

Zurück aufs Schiff: Wie muss man sich die Gesichter der Menschen vorstellen, wenn sie an Bord des rettenden Schiffes steigen?
Da ist viel Erschöpfung, aber auch Erleichterung. Der Ablauf war streng reglementiert, es gab verschiedene Stationen, zunächst wurde Fieber gemessen, die Leute wurden geduscht, weil sie oft in einem ätzenden Benzin-Salz-Gemisch ausharren mussten. Viele waren seekrank und mussten sich übergeben. Auf dem Schiff geht es erst einmal darum, Leben zu retten, Tee zu verteilen und warme Decken. Die Kirche sollte solche Dinge tun, und nicht nur darüber reflektieren. Man kann auch nicht einfach an einem Autounfall vorbeigehen, ohne zu helfen. Dasselbe gilt für die Seenotrettung im Mittelmeer.

Gab es Schicksale, die sie besonders berührt haben?
Davon gab es zahlreiche. Jeder dieser Menschen hat extreme Gewalt erfahren, Folter, Erpressung, Vergewaltigung. Eine Frau kam mit einem eineinhalb Jahre alten Kind auf das Schiff und hatte starke Verbrennungen auf der Haut. Auch sie mussten in Libyen sexuelle Dienste leisten, um nicht geschlagen zu werden.

Stehen Sie noch in Kontakt mit gewissen Personen? Die Rettung aus dem Meer ist ja nur der erste Schritt, das Ankommen in Europa der nächste. Wie geht man mit der Erfahrung um, dass hier niemand auf einen gewartet hat?
Ich habe noch Kontakt zu einigen und werde auch über diese Geschichten schreiben. Natürlich erfahren sie in Europa eine starke Desillusionierung, wenn sie zunächst von einem Ort zum anderen geschoben werden und durch die Asylmaschinerie müssen. Und viele haben psychische Traumata. Doch diese Menschen haben eine extreme Frusttoleranz, eine Resilienz, die wir als Europäer so nicht kennen. Und von der wir lernen können.

 

Sie haben in Ihren Berichten vom Schiff viel von Schikane geschrieben, von unwilligen Küstenwachen. Spüren Sie manchmal auch Wut?
Ja, sicher. Es gibt Dinge, die einfach nicht gewollt sind auf dieser Welt. Es gibt starke Lobbys und Mächte, die einfach nicht wollen, dass diese Menschen nach Europa kommen. Das ist schwer zu akzeptieren.

Es ist doch ähnlich wie mit der Klimakrise: Das Problem ist so gross, so viel müsste sich ändern, da könnte man leicht verzweifeln.
Es ist so: Es müssen grosse Lösungen her. Wenn wir hier in der Schweiz nur noch Bio-Obst essen, wird das das Klima nicht retten. Man muss also Druck auf die Politik machen. Wir können natürlich im Kleinen unser Verhalten ändern, ob nun im Konsum oder gegenüber Ausländern. Aber wir müssen uns auch politisch einbringen. Sonst ändert sich nie etwas.

Beide Probleme, Klima wie Migration, scheinen wie riesige Tanker, deren Richtung zu ändern unendlich schwierig ist. Wieso bin ich eigentlich so viel pessimistischer als Sie?
Das mag am Naturell liegen. Aber es gibt doch genug Dinge, die auch wieder schön sind. Auch auf dem Schiff. Da war nicht alles traurig und trist. Wir haben gelacht, getanzt, sind mitten im Mittelmeer vom Schiff gesprungen und sind geschwommen. Theologisch gesprochen: Man sollte trotz allem die Freude nicht vergessen.

 

Weitere Infos
Constanze Broelemann

Pfarrerin und Journalistin

Constanze Broelemann wurde 1978 in Bielefeld (D) geboren. Sie absolvierte ein Theologiestudium in Bonn, Bethel (Bielefeld) und Basel, ein journalistisches Volontariat bei dem Magazin «zeitzeichen» (Berlin) und war Redaktorin beim Kirchenboten Berlin.

Broelemanns Vikariat und Ordination erfolgten in Bühler (AR), seit Februar 2018 ist sie Redaktionsleiterin von «reformiert» Graubünden. Zudem ist sie Pfarrerin in der Kirchgemeinde Ausserdomleschg.

Das ehemalige Forschungsschiff Sea Watch 4 wurde vom Bündnis «United4Rescue» finanziert, das massgeblich von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) initiiert wurde. Die Idee eines kirchlichen Seenot­rettungsschiffs im Mittelmeer geht auf den Evangelischen Kirchentag in Dortmund 2019 zurück.

2020 ersteigerte das Bündnis das Schiff für 1,3 Millionen Euro, darunter 1,1 Millionen Euro Spendengelder des Bündnisses, dem mittlerweile über 500 Organisationen und Unternehmen angehören. Anschliessend wurde die Sea Watch 4 getauft und an den Verein Sea Watch übergeben, der das Schiff im Auftrag des Bündnisses betreibt.

Informationen und Spenden unter www.sea-watch.org

 

Autor

Julian Reich ist Redaktionsleiter der «Terra Grischuna». julian.reich@somedia.ch.