Mit Original-Jugendstillampen und der freigelegten Decke lebt der Grandhotelgeist wieder auf. (Foto: «Kurhaus Bergün»)
Es sind wohl kaum zufällig gerade jene Hotels, die über die Jahrzehnte nicht beständig aufgehübscht und an die jüngsten Bedürfnisse nach Lifestyle und Bequemlichkeit angepasst wurden, die noch heute eindrücklich von der Traumwelt Grandhotel berichten. Das «Maloja Palace» etwa, das mit seiner wuchtig repräsentativen Fassade die Ebene hin zum Silsersee beherrscht, erinnert an einen gestrandeten Luxusdampfer. Ein Ungetüm mitten in der kargen Berglandschaft. Kein Wunder also, dass sich schon der Schriftsteller Jakob Christoph Heer auf seinen «Streifzügen im Engadin» von 1898 fragte: «Wie kam dieser Bau, in seiner einfachen, edlen Renaissance einer der grossartigsten Paläste der Schweiz, in diese Höhe, wo er den durch seine Pracht überraschenden Schlussstein des Engadins bildet, das an Wundern nicht aufhört, bis man es ganz durchwandert hat?»
Das «Maloja Palace »beherrscht die Ebene zum Silsersee, Aufnahme um 1890. (Foto: Kulturarchiv Oberengadin)
Doch das «Maloja Palace» ist viel mehr als bloss Hotel, es ist wohl eines der ersten Resorts in den Alpen überhaupt. Denn zum ehemaligen «Kursaal Maloja», heute «Maloja Palace», gehörten Burg und Schweizerhaus, Villen im Chaletstil und Dependancen, Kirchen, Alpengarten, Sport- und Spielplätze. Dieses Ferienidyll in Perfektion ist die Erfindung des belgischen Grafen Camille de Renesse. 1881 hatte Renesse damit begonnen, den Bauern von Stampa die Wiesen auf der Ebene zwischen Pass und See abzukaufen. Mit dem Entwurf des Hotels beauftragte Renesse den Architekten Jules Rau, seinerzeit Präsident der belgischen Architektenkammer. Zum See hin entwarf dieser eine 200 Meter lange axialsymmetrische und kuppelbekrönte Fassade. Das Innere mit seiner Enfilade von Gesellschaftsräumen war ausgesprochen grosszügig ausgelegt. Die breiten Flure dienten gar als Spazierwege durch das Haus. Hotellift und Klimaanlage, Heizung und elektrische Beleuchtung sorgten zudem für modernsten Komfort.
Vorgedruckter Werbebrief des Hotels «Bregaglia». (Dokument: Archiv Hotel «Bregaglia»)
Während oben auf dem Maloja der mächtige «Kursaal»-Bau unter der Leitung des Churer Architekten Kuoni schwindelnd schnell in die Höhe wuchs, setzte auch Teodoro Scartazzini, Bauherr und Besitzer des 1876 erstellten Hotels «Bregaglia» in Promontogno, auf die Strategie «Flucht nach vorne»: Er beauftragte 1883 den Mann der Stunde, den Brüsseler Architekten Jules Rau, mit dem Entwurf für die «Dépendences de l’Hôtel Bregaglia». Die Erweiterungspläne für das «Bregaglia» blieben folgenlos, oben auf dem Pass aber wurde das Kurhaus in Rekordzeit fertiggestellt und konnte am 1. Juli 1884 feierlich eröffnet werden. Im Übrigen gibt es noch eine weitere tragische Parallele zwischen dem grossartigen Hotelprojekt in Maloja und dem bescheideneren «Bregaglia»: Als dem belgischen Grafen und Investor Camille de Renesse wenige Monate nach Fertigstellung seines Kurhauses der Konkurs drohte, setzte er sich nach Nizza ab. 1889 stand auch Scartazzini vor dem Bankrott, er sollte in Italien untertauchen. Sein Hotel ging 1891 in den Besitz einer Aktiengesellschaft über. Der Erfolg jedoch blieb weiterhin aus. Zur Begründung machte der Verwaltungsrat in seinem Bericht vom 30. Dezember 1900 geltend, dass das «Bregaglia» allein als «Übergangsstation» diene und es nicht gelingen wolle, «eine ständige Klientel von Pensionären, die einen längeren Aufenthalt nehmen, anzuziehen».
Als Beispiel hätte eigentlich das Hotel «Bregaglia» anderen Geschäftsleuten in Graubünden eine Lehre sein müssen: «Übergangsstationen» dienten allein dem Dazwischen der Reise, die Gäste aber drängten ans Ziel – hinauf ins Engadin. Es hätte auch genügt, Nietzsche zu lesen. Dieser hielt nämlich 1874 in Bergün fest: «Bis zu hundert Menschen täglich fahren hier mit der Post vorbei. Der grösste Teil will nach St. Moritz, bleichsüchtiges und nervenschwaches Volk aus der ganzen Welt, zusammengeführt durch die modische Berühmtheit jener Bäder.» Dennoch, als die Albulabahn 1903 den Betrieb aufnahm, glaubte ein Bergüner Initiativkomitee an rosige Geschäfte und begann mit der Planung eines «Hauses ersten Ranges». Bergün sollte sich als Akklimatisations- und Luftkurort etablieren und warb mit dem Slogan: «Bergün – an der Engadiner Bahn». Das vom Zürcher Architekten Jost-Franz Huwyler-Boller erbaute Kurhaus eröffnete 1906 als luxuriöses Hotel mit 85 Zimmern und modernster Ausstattung. Doch die erste Wintersaison war ein Reinfall. Und man stellte fest: Bergün liegt zwar an der Bahn ins Engadin, der Zug hält, doch nur wenige Gäste steigen aus.
Man ist versucht zu sagen, der Misserfolg der Hotels «Maloja Palace», «Bregaglia» und «Kurhaus Bergün» war und ist ein Glück für die historische Bausubstanz. Die Traumwelt Grandhotel, wie von den Hotelpionieren vor über 100 Jahren erdacht, ist in den genannten Häusern in ganz besonderer Weise spür- und erlebbar geblieben. Das «Maloja Palace», das 1934 den Betrieb schloss, um ab den späten 1950er-Jahren während gut 50 Jahren belgischen Kindern als Ferienheim zu dienen, ist seit 2006 im Besitz des italienischen Investors Amadeo Clavarino, dessen Um- und Ausbaupläne bislang scheiterten, der jedoch dafür sorgt, dass die Substanz in Schuss bleibt. Und so kann man noch heute durch unendlich grosszügige Hotelkorridore flanieren und über die Weite der Gesellschaftsräume staunen. Auch das Hotel «Bregaglia» schaukelte sich durch die Zeit. Der letzte Besitzerwechsel erfolgte 1981, seither gehört das Haus der Familie Previtali, die es auch führt. Das Hotel zeigt sich wohlerhalten, traumhaft unverändert. Die letzten grösseren Eingriffe datieren aus den 1960er-Jahren und sind selbst längst historisch.
Die filigrane Treppe im Hotel «Bregaglia», die in eine «Welt von gestern» führt. (Foto: Heinrich Helfenstein)
Wer das «Bregaglia» betritt, wird von einer elegant geschwungenen steinernen Treppe mit filigranem Gusseisengeländer empfangen, die hoch und immer höher einem gemalten Himmel entgegenführt. Weiterhin brennen in den Gesellschaftsräumen die Lampen aus der Entstehungszeit des Hotels, die ihre Elektrifizierung um 1900 gut überstanden haben. Das grösste Privileg des heutigen Gasts aber ist, in einem Zimmer schlafen zu können, in dem es Deckenmalereien, schablonierte Wände, knarrende Fussbodendielen und original Mobiliar von 1876 hat.
Die Schönheit des Hotels «Kurhaus Bergün» musste erst wieder herausgeschält werden. Ab 1952 wurde das Haus vom Schweizerischen Verein für Familienherbergen betrieben. Die Idee war, Familien mit Kindern preisgünstige Ferienwohnungen zur Verfügung zu stellen. Aus grosszügigen Gesellschaftsräumen entstanden kleine Wohneinheiten, Schmuck und Stuck verschwanden hinter Pavatex-Wänden. 50 Jahre ging das gut, 2002 fehlte dem Verein dann das Geld für dringend nötige Sanierungsarbeiten. Das Haus wurde geschlossen. Kurz darauf sprangen langjährige Gäste ein, gründeten eine Aktiengesellschaft und erwarben das Hotel. Seither wird das Gebäude unter der Leitung des Mitaktionärs und Architekten Heini Dalcher in Etappen umgebaut, die es – Stück um Stück – zu sich selbst zurückführen. Dafür ist das Kurhaus von der Landesgruppe Schweiz des Internationalen Rats für Denkmalpflege (ICOMOS) als «Historisches Hotel des Jahres 2012» ausgezeichnet worden.