Ornament gewordene Lebenszeit

Fliegender Teppich: Jean-Frédéric Schnyders «Broderie».

«Venedigsche Sterne» im Bündner Kunstmuseum
Ausgehend von historischen Stickereien zeigt das Bündner Kunstmuseum eine Ausstellung, die den Bogen vom Handwerk zur Kunst schlägt. Und weit darüber hinaus.
Text 
ulian Reich
Bilder 
Livia Mauerhofer

«Kreuzstich»: Da denkt man vermutlich erst einmal an mehr oder weniger schöne Stunden im Handarbeitsunterricht. Weniger bewusst ist uns heute, dass die Stickerei eine lange und vor allem auch bedeutungsvolle Geschichte besitzt. Gerade Graubünden gilt als einer der wichtigsten Orte des Stickereihandwerks, der Kreuzstich ist so etwas wie ein kantonales Kulturgut. Dabei ist es mit dem Kreuzstich wie mit vielem in Graubünden: Er und seine Motive kamen von ausserhalb und wurden von der Gesellschaft über die Zeit angeeignet. 
Daran erinnert der Titel der neuen Ausstellung im Bündner Kunstmuseum: «Venedigsche Sterne. Kunst und Stickerei». Die Sterne verweisen auf ein Musterbuch aus dem 16. Jahrhundert, in dem eben unter anderem Motive venezianischer Art zu finden waren. Nach Venedig waren diese wiederum über die Seidenstrasse gelangt, von wo sie letztlich, durch Handel und mit den zurückkehrenden Bündner Emigrantinnen und Emigranten, ihren Weg in die hiesigen Täler fanden. 

Blick in die Ausstellung. (Foto: Bündner Kunstmusuem)

Historisches im Kunstmuseum

Das Rätische Museum, das in diesem Jahr sein 150-Jahr-Jubiläum begeht, verfügt über eine reiche Sammlung von Stickereien, vor allem aus dem Engadin. Diese hat das Bündner Kunstmuseum zum Ausgangspunkt für eine Recherche genommen, die den Faden aus dem 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart spinnt. 

Kern der Ausstellung, und dies durchaus auch im Wortsinne, bilden die im Zentrum des Untergeschosses ausgestellten Objekte aus der Sammlung des Rätischen Museums. Museumsdirektor Stephan Kunz und Kuratorin  Susann Wintsch haben sich durch die Sammlung gearbeitet und weniger nach objektiven als nach ästhetischen Aspekten Stücke ausgesucht. Zu sehen sind nun Muster-, Tauf- und Paradehandtücher, aber auch sogenannte Vorstecker, die zur Verzierung von Trachten Anwendung fanden. Wer sich einen Moment nimmt, um die Exponate aus der Nähe zu bestaunen, ahnt unweigerlich, wie viel Aufwand an Zeit und Geduld hinter jedem Stück steht – die Stickerei ist gewissermassen Ornament gewordene Lebenszeit ihrer Erschafferinnen. Die Herstellung von Textilien war stets Frauenarbeit, vom Anpflanzen des Rohstoffs über die Verarbeitung zum Tuch bis zur Verzierung. Nicht umsonst waren sie Teil der Aussteuer, die die Braut in die Ehe mitbrachte, um so einen gemeinsamen Haushalt gründen zu können. 

Sticken war Frauensache – und ist es bis heute, blickt man weiter durch die Ausstellung. Neben den 17 Künstlerinnen sind lediglich drei Künstler vertreten, von denen mit Jean-Frédéric Schnyder wiederum nur einer selber stickt. Die anderen liessen Sticken, nämlich Ernst Ludwig Kirchner und Alighiero Boetti. 

 Kulturtechnik Sticken: sogenannte Vorstecker aus dem Engadin.

Taeuber-Arp und Kirchner

Der Beginn der Moderne und ihre Hinwendung zum Handwerk lassen sich an den Arbeiten von Sophie Taeuber-Arp und Ernst Ludwig Kirchner ablesen. Erstere, in Davos geboren, kam 1919 eigens nach Chur, um sich die museale Stickerei-Sammlung anzusehen. Ohnehin wuchs Tauber-Arp in einem Umfeld auf, in dem das textile Handwerk allgegenwärtig war, später studierte sie und lehrte es an Textilschulen in St. Gallen und Zürich. Ernst Ludwig Kirchner wiederum fand in seiner Zeit in Davos mit der dortigen Weberin Luise Gujer eine Mitarbeiterin, die seine Entwürfe kongenial in Textilien umzusetzen wusste. Das Kunstmuseum verfügt über eine repräsentative Auswahl an Entwürfen und Werken aus dieser Zusammenarbeit. 

Aus der selben Epoche stammen die Arbeiten von Alice Bailly, der Genfer Künstlerin, in deren Œuvre Malerei und Stickerei ebenbürtig nebeneinander stehen. Dass sie damit schon früh Erfolge feierte und etwa 1919 im Kunsthaus Zürich ausstellte, mag aus heutiger Sicht überraschen. Denn gegen Ressentiments aus der etablierten Kunstszene hatte auch sie sich zu wehren. 

Die Ausstellung besticht mit hochkarätigen Leihgaben, darunter eine ganze Reihe von Werken von Louise Bourgeois. Die Pionierin der feministischen Kunst ist gleich mit mehreren Exponaten vertreten, mit dem neunteiligen «Polar Star» von 2008 etwa knüpft sie motivisch sehr schön an den Ausstellungstitel an. Hier entwickelt sich ein Stern über neun Felder hinweg zu einem Spinnennetz, einem immer wiederkehrenden Motiv in Bourgeois’ Œuvre. 

Sophie Taeuber-Arps «Personnages».

Kreise im Osten

Die Ausstellung zieht aber auch weitere Kreise, die über die letzten Jahrzehnte bis in die Gegenwart reichen. Gender- und sozialpolitisch wird es beispielsweise bei Annegret Soltau, die mit Selbstporträts vertreten ist. Die mit einem Faden bestickten Porträts sind zugleich ästhetisch wie auch verstörend, stickte sich Soltau doch gewissermassen Augen und Mund zu. 

«Venedigsche Sterne» führt zudem gewissermassen auf dem umgekehrten Weg zurück zu den Ursprüngen der Textilkunst, indem eine Reihe von Künstlerinnen vertreten sind, die aus dem nahen Orient stammen. Die junge ägyptische Künstlerin Rehab Eldalil beispielsweise zeigt Fotografien einer Beduinengemeinschaft, die anschliessend von den Protagonistinnen bestickt wurden. Und Latifa Zafar Attaii hat 1000 Passfotos von Menschen gesammelt, die der unterdrückten Hazara-Gemeinschaft angehören. Mit bunten Fäden hat sie sodann deren Gesichter überstickt, sodass sie nicht mehr identifizierbar sind und zugleich gleichwertig werden – in der Hoffnung, dass die Unterschiede zwischen Volksgruppen, aber auch zwischen den Geschlechtern, verschwinden. 

Je nachdem, wie man sich durch die Räume bewegt, bildet Jean-Frédéric Schnyders «Broderie» den Abschluss der Ausstellung – ein gewissermassen über dem Boden schwebender Teppich. Eine fantastische Welt breitet sich darauf aus, die den Betrachter immer wieder im Kreis herum dreht, ein Kosmos ohne Anfang und Ende. Erschaffen hat ihn Schnyder aus marokkanischem Stoff und Fäden über einen Zeitraum von neun Jahren. Auch hier ist die Zeit zum Bild geworden. 

 

Latifa Zafar Attaiis «One Thousand Faces».

Weitere Infos
Drei Museen, ein Ursprung

Die drei kantonalen Museen in Chur – das Rätische Museum, das Kunstmuseum und das Naturmuseum – gehen auf den selben Ursprung zurück. Nachdem in den 1850er-Jahren die Gründung eines Museums gescheitert war, nahm 1869 der Bündner Jurist, Politiker und Schriftsteller Peter Conradin von Planta-Zuoz (1815–1902) das Heft in die Hand. Schon länger waren in der Presse Klagen über die steigende Anzahl von Kulturgütern, die den Kanton verliessen, laut geworden. Dem wollten von Planta und seine prominenten Mitstreiter Einhalt gebieten.Sie gründeten die Bündnerische Stiftung für Wissenschaft und Kunst. Da vom Kanton keine Mittel zu erhalten waren, wurde durch Spenden von Bündnern im In- und Ausland ein Fonds für eine Bibliothek, für die Förderung historischer Veröffentlichungen, für den Aufbau einer zoologischen Sammlung, für Kunstausstellungen und in erster Linie für Ankäufe von Altertümern geschaffen. Ein Dach über dem Kopf erhielt die Sammlung im Haus Buol, einem repräsentativen Patrizierhaus just unterhalb des Churer Hofes. Im Juni 1872, also vor 150 Jahren, bezog man einen gemieteten Raum im Erdgeschoss. 

Im Jahre 1880 wurde das Institut zum «Rätischen Museum» umgetauft. Die Bibliothek wurde 1905 und die Kunst- und Naturaliensammlung 1919 von anderen Institutionen weitergeführt. Die Kantonsbibliothek zügelte in den Karlihof, das Kunsthaus in die Villa Planta und das naturhistorische Museum in den Neubau neben dem Kunsthaus, den unterdessen abgerissenen «Sulser-Bau». Die archäologische, kulturgeschichtliche und volkskundliche Sammlung wurde im Buolschen Haus unter dem Namen «Rätisches Museum» weiterhin ausgestellt, wie dem Artikel «Museumsgeschichte von Graubünden» von Georg Jenny zu entnehmen ist.