«Und doch plagt mich ein ewiges Heimweh»

Auswanderungsland, Auswanderer

Die Schwabenkinder-Skulptur von Peter Lenk 
in Ravensburg zeigt einen bar-
füssigen Buben, der einen grimmi-
gen Bauern auf seinen Schultern trägt, dem seiner-
seits ein wohl-
genährter Pfaffe aufsitzt.

Als Graubünden ein Auswanderungsland war
Abertausende Bündnerinnen und Bündner suchten einst ihr Glück in der Fremde. Sie zogen als Söldner nach Holland, als Dienstmädchen nach Mailand, als Pastetenbäcker nach Polen, als Farmer nach Oregon. Kirchenbücher, amtliche Aufzeichnungen und Briefe erzählen von strenger Arbeit, von Schikanen, vom Heimweh und Überlebenskampf, vom traurigen Los oder frühen Tod vieler dieser Auswanderer.
Text 
Peter Michael-Caflisch

Am 8. März 1850 ist der zehnjährige Hirte Pieder Casutt von Falera im schwäbischen Mundbach in einen Weiher gefallen und jämmerlich ertrunken. Sein Bruder Gion Giusep ist 23-jährig als Söldner im Dienst des Königs von Neapel verstorben. Der Konditor Valentin Rüedi aus der Pürt im Avers ist fern der Bündner Berge im litauischen Wilna verschieden, sein Bruder Christian hochbetagt als Cafetier und Limonadier in Cognac im Südwesten Frankreichs.
Graubünden war bis zum Ersten Weltkrieg ein Auswanderungsland, dessen Söhne und Töchter aus Armut oder Abenteuerlust, neugierig oder nachahmend, selten durch obrigkeitlichen Zwang und nie an Leib und Leben gefährdet, immer aber etwas Besseres suchend, zu «Wirtschaftsflüchtlingen» wurden. 

Auswanderer

Lieferwagen der Firma Luigi Caflisch e Com-
pagni mit der Aufschrift «Colo-
niali Pasticceria Confetteria» unterwegs in den Strassen Neapels (Italien).

​«Wir sind allerorten geplagt, der Rock ist unser Dach, der Habersack ist unser Hauptkissen, ein wenig Stroh ist unser Federbett»

klagt der Söldner Joseph Cadosi von Zillis 1794 in einem Brief aus der holländischen Festungsstadt Bergen op Zoom. 
Während Jahrhunderten schlugen sich Bündner als Söldner im Kriegsdienst für fremde Herren. Getreu ihrem Eid dienten sie den Vereinigten Provinzen der Niederlande oder der Republik Venedig, starben für die Könige Frankreichs oder Preussens, schickten sich in die Strapazen der Feldzüge neapolitanischer oder spanischer Herrscher – und liessen sich auch als freie Bündner zur Niederwerfung von Volksaufständen missbrauchen.
Wie viele Bündner je unter fremden Fahnen gedient haben, wird nie zu ermitteln sein. Gewiss, mancher Spross aus vornehmem Geschlecht hat mit Soldgeldern ein Vermögen gemacht. Die Söhne der v. Salis und v. Sprecher und anderer kehrten mit dem Offizierspatent in der Tasche zurück, erbauten sich einen stattlichen Alterssitz und lebten von ihrer holländischen oder englischen Pension. Ein Grossteil der Soldaten aber fand den Tod auf dem Schlachtfeld oder wurde im Lazarett von Seuchen hinweggerafft. Rückkehrer brachten ausser dem Uniformrock Laster und üble Gewohnheiten nach Hause und oft einen siechen oder verstümmelten Körper.
Wie viele Männer aus einer einzigen Gemeinde der Reisläuferei zum Opfer fielen, zeigt der Totenrodel von Schiers. In den knapp hundert Jahren von 1650 bis 1748 starben 213 Burschen und Männer im Sold fremder Mächte. Allein im September 1734 fielen acht junge Schierser in einer Schlacht bei Mantua. Die Brüder Christen, Jacob und Enderli Luck von Schuders liessen ihr Leben für die Krone Frankreichs. Simmen Mark von Pusserein wurde im blauen Rock eines holländischen Regiments vom Tod ereilt, sein Sohn Hans in der roten Uniform des französischen Garderegiments.  

​«Alla sera non poteva quasi più movermi»

(«Abends konnte ich mich kaum noch bewegen»), notiert Giovanni Domenico Barbieri von Roveredo, Maurermeister in Eichstätt, um 1720 in seinen Erinnerungen. 
Im frühen 16. Jahrhundert begann die Auswanderung von Bauhandwerkern aus dem unteren Misox nach Norden, von Baumeistern, Architekten, Malern und Stukkatoren. Künstler wie die Albertalli, Angelini, Barbieri, Bonalini, Gabrieli, Sala, Viscardi, Zendralli, Zuccalli und viele mehr haben vom Rheinland über Bayern und Österreich bis weit hinein nach Polen und Galizien unvergängliche barocke Bauwerke geschaffen – Kirchen, Klöster, Rathäuser und Schlösser, ja ganze Städte wie die fürstbischöfliche Residenz Eichstätt in Franken. Werk und Wirken dieser «Magistri» sind in den letzten Jahren durch verschiedene Publikationen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Kaum dokumentiert aber ist das Leben und Sterben der vielen «welschen» Handwerker in ihrem Gefolge, der Maurer, Steinhauer, Dachdecker und Zimmerleute aus dem Oberhalbstein und Albulatal oder dem Unterengadin. Diese oft unbekannten Arbeiter schufteten anspruchslos von einem Stern bis zum andern und zu günstigeren Bedingungen als die Einheimischen.

Auswanderer

Dreisprachige Geschäftskarte von Linard Michael (1805) von Wergenstein, Zuckerbäcker in St. Petersburg (Russland).

​«Kann man sagen, dass von zehn Zuckerbäckerjungen einer reich wird?»

frägt 1857 der anonyme Verfasser eines kritischen Beitrags im «Liberalen Alpenboten». 
Die ersten Zuckerbäcker aus Graubünden sind in der Lombardei und in Venedig zu suchen, wo schon 1458 ein gewisser Antonius aus dem oberen Engadin als «pestrinarius» oder Bäcker nachgewiesen ist. Namentlich bekannt sind heute über 14 000 Pastetenbäcker, Confiseure, Likördestillateure, Schokoladefabrikanten, Kaffeesieder, Aufwärterinnen und Buffetdamen. Sie kamen aus allen Dörfern und Talschaften Graubündens mit Ausnahme der Südtäler Mesolcina und Calanca. In 1366 Städten Europas, Amerikas und Nordafrikas buken sie Anisplätzchen und Tartelettes, reichten ihren Gästen Forellenpastetchen und Quittengefrorenes oder kredenzten Kaffee, Johannisbeerlimonade und Pomeranzenlikör. 
Die Schamser zogen mit Vorliebe in die baltischen Städte von Riga bis St. Petersburg. Ihre Nachbarn im Rheinwald bevorzugten die Lombardei und Mantua, die Nachbarn im Safiental das östliche Ungarn und Siebenbürgen. In Spanien und in England waren die Puschlaver führend. Prättigauer und Davoser findet man trotz ihrer markanten deutschen Mundart zuhauf in Frankreich. Die meisten der über 650 bekannten Zuckerbäcker von Sent wagten sich nicht so weit vor. Triest und die dalmatische Küste, Florenz und die Toscana waren ihre Lieblingsziele. So konnte, wer es vermochte, die Sommerfrische im Unterengadin verbringen und zur oft besungenen Verklärung der auf dem Dorfplatz herumstehenden, Zigaretten paffenden, Italienisch parlierenden «randulins» beitragen.
Damals, als in Chur Konditoren aus dem Appenzell und aus Bayern tätig waren und Bäckergesellen aus dem Württembergischen, traten sich Bündner in den Städten Frankreichs fast auf die Füsse. Um 1850 gehörte die heutige «Pâtisserie Martin» an der Grande Place im bretonischen Morlaix dem Münstertaler Andreas Soing. Trat Soing nach der Arbeit vor die Tür, konnte er dem Besitzer des übernächsten Hauses einen romanischen Morgengruss zurufen. Denn Antoni Bott, Patron des «Grand Café de la Terrasse», stammte wie Andreas Soing aus Fuldera und war erst noch sein Jahrgänger! 
1872 führte Georg Hitz von Seewis zusammen mit seiner Frau Elisabeth geb. Gansner an der Rue de Plaisance in Angoulême ein Kaffeehaus. Neben einer französischen Dienstmagd beschäftigte das Ehepaar nicht weniger als zehn «garçons de café» aus seiner Heimat. Zur gleichen Zeit betrieben Georg Anton Arms von Obersaxen und seine Gattin Maria Magdalena geb. Blumenthal an der Place du Murier eine Patisserie. Ihr Personal bestand aus einer französischen Dienstmagd, Johann Caspar Janka von Obersaxen, Giacun Derungs und Valentin Rothmund von Trun sowie dem 15-jährigen Antoni Blumenthal aus Vella.

​«Buca ca ei seigi cheu rosas senza spinas»

(«Nicht dass es hier Rosen ohne Dornen gäbe»), schreibt Fida Barbara Caprez-Casty von Trin 1884 aus Hartford (Wisconsin). 
Wie viele Bündnerinnen und Bündner bis um 1930 nach Nord- und Südamerika ausgewandert sind, ist nicht bekannt. Aus der bevölkerungsmässig kleinen Val Schons zogen innert 80 Jahren 735 Personen vom Säugling bis zur 81-jährigen Grossmutter nach Amerika. Im gleichen Zeitraum wanderten 300 Personen aus der Gemeinde Tujetsch nach Nordamerika aus, wo sich einige von ihnen rund um den Lake Badus (South Dakota) eine neue Heimat schufen.
Im April 1855 machten sich 116 Untervazer und 57 Fanaser mit Unterstützung ihrer Heimatgemeinden auf den Weg nach Brasilien. Dort waren ihnen Kaffeepflanzungen, Behausung und Gerätschaften versprochen worden, die sie mit ihrer Hände Arbeit in wenigen Jahren abzahlen könnten. Statt das «Paradies in den Köpfen» verwirklichen zu können, verstrickten sie sich in Schulden und Abhängigkeit von den Plantagenbesitzern.   
Schon die wochenlange Überfahrt konnte zum Albtraum werden. Im Frühjahr 1847 schieden 28 Frauen, Männer und Kinder mit Tränen von ihrer Heimat Arezen. Unweit der amerikanischen Küste verstarb ihr Anführer, Meister Martin Joos aus dem Nüwhuus. Seine Leiche wurde in Sacktuch gehüllt und den Wellen übergeben. Welch traurige Erinnerung für die hochschwangere Witwe und die vier unmündigen Kinder! Welch trostloser Anfang in einer armseligen Blockhütte in den Prärien Wisconsins, mit einem Gespann Ochsen, einer Kuh, einer Mese, einem Kalb, dreizehn Schweinen und drei Hühnern! 

Auswanderer

Die Jugend von Zillis um 1896 
in Bakersfield (California).

​«Wenn ihr daheim Birnbrot schnabuliert, sind die Neuseeländer am ärgsten Heuen»

berichtet Fidi Hunger von Safien/Zalön 1912 aus Rawhitiroa (Taranaki). 
Zu den ersten Bündnern, die ihren Fuss auf den fünften Kontinent setzten, gehörten die Puschlaver. 1854 wanderten acht Poschiavini nach Australien aus, ihnen folgten bis zum Ersten Weltkrieg über 400 Landsleute. Berichte von sagenhaften Funden lockten sie auf die Goldfelder um Bendigo, Daylesford und Ballarat. Innert fünf Jahren sollen allein aus dem Weiler Prada 54 junge Männer die monatelange Fahrt rund um den halben Erdball gemacht haben, während sich die drei Zurückgebliebenen ihre Lebensgefährtin aus über 50 Mädchen wählen konnten. Ähnlich wirkte der Goldrausch nur noch im Schams, wo 111 Burschen, deren 47 das zwanzigste Lebensjahr noch nicht erfüllt hatten, alles stehen und liegen liessen, in der Hoffnung, auf die Schnelle reich zu werden. 
Auch Felix Hunger aus Safien versuchte sein Glück auf den Goldfeldern Australiens und in den Bergen Neuseelands, bis er einsehen musste, dass er es in seinem angestammten Beruf als Schmied weiterbringen werde. 18 Jahre nach seiner Abreise kehrte er nach Hause zurück, um sich eine Lebensgefährtin zu suchen und im Auftrag der neuseeländischen Regierung Handwerker und Dienstmädchen von den Vorzügen Neuseelands zu überzeugen. Die Safier, Heinzenberger, Rheinwalder und Domleschger, die ihm 1875 und später folgten, schufen mit Farmen und Handwerksbetrieben rund um den Mount Taranaki eine Bündner Kolonie, wo heute der Familienname Meuli häufiger vorkommt als an seinem Ursprungsort Nufenen. 

​«Wieder aus Schwaben, dem Lande der Unzucht»

lautet 1859 im Geburtenrodel von Obersaxen der Kommentar des Dorfpfarrers nach der Taufe eines unehelichen Kindes. 
Bündner wanderten nach dem Dreissigjährigen Krieg in die durch Kriegshandlungen verwüsteten und durch Hungersnöte entvölkerten Landstriche Süddeutschlands aus. So wurde Balthasar Prader vom Hofe Nitz in der Ruinaulta 1661 in Priemen bei Volkratshofen zum Stammvater des zahlreichen Geschlechts der Brader.
Ab Ende des 18. Jahrhunderts ist die Schwabengängerei dokumentiert, die spätwinterliche Fusswanderung von Kindern aus den katholischen Talschaften Graubündens, um sich auf den Kin- dermärkten in Ravensburg, Tettnang oder Kempten als Viehhirten und Gänsemägde zu verdingen. Von den 1017 Schwabengängern des Jahres 1850 kamen 158 aus Vals, 83 von Untervaz und 62 von Trun. Für den Gegenwert des «doppelt Häs», einer Neueinkleidung mit Werktags- und Sonntagskleid, waren sie von Anfang Februar bis Martini auf Gedeih und Verderb den Launen ihrer Arbeitgeber ausgeliefert. Zahlreiche Schwabengänger liessen sich dauernd im Süden Deutschlands nieder, wo man Mägde und Melker, Köchinnen, Knechte, Kutscher und Käser immer brauchen konnte. 

​Weisse Flecken

Noch weist die Geschichte der Auswanderung aus Graubünden Lücken auf. Nicht erforscht ist das Leben der «Lattès», der Lugnezer, die sich in Mailand als Milchmänner betätigten. Kaum aufgearbeitet ist die Geschichte der Misoxer und Calancascer Rauchfangkehrer und Anstreicher in Ungarn und Böhmen, und der Glaser, die mit dem schrillen Ruf «vitrieeeee» in den Gassen französischer und belgischer Städte ihre Ware und Arbeit feilboten. Noch nicht untersucht ist die Geschichte unzähliger Frauen und Männer aus der Surselva, die im 19. Jahrhundert als apprêteur, blanchisseuse, ouvrier en soie, repasseuse, tulliste oder tisseur in der Textilmetropole Lyon in überlangen Arbeitstagen zu Niedriglöhnen ausgebeutet wurden. Und wer geht einmal den Spuren der Dienstmädchen nach, die sich für wenig Geld und noch weniger Anerkennung ihr Leben lang in den besseren Haushalten lombardischer Städte abrackerten?

Weitere Infos

Autor
Peter Michael-Caflisch forscht und schreibt zur Bündner Auswanderungsgeschichte. Er lebt in Arezen im vorderen Safiental.
bodahuusarezen@bluewin.ch

Titelzitat
Stammt aus einem Brief, den Esaias Cantieni von Reischen, Zuckerbäcker in Lima (Ohio), 1870 nach Hause schrieb.

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