Stoffe, Wolle und Geissenhaar

Matrix-Kollektion

Aus der Matrix-Jubiläumskollektion das Foulard von Gerber & Bardill. (Foto: Christian Metzler/Katharina Baur)

Ein Einblick in die Textilgeschichte Graubündens
So bekannt wie in anderen Regionen in der Schweiz ist das Textilgewerbe im Kanton Graubünden nicht. Trotzdem hat es eine lange, traditionelle Geschichte und ist zeitgenössisch und international absolut auf der Höhe.
Text 
Maya Höneisen

Im Jahr 1927 schrieb Frau B. Walkmeister-Dambach im Alpwirtschaftlichen Monatsblatt des Plantahofes in Landquart: «Es liegt ein Segen in diesen erwähnten Handfertigkeiten (Weben und Spinnen, Anm. d. Red.), und mit allen Mitteln sollten wir dieselben unserem Volke zu erhalten suchen. Nicht nur der hohe Wert, der in diesen Geweben liegt, rechtfertigt die Erhaltung, sondern es wird auch der Kunstsinn in weitgehendem Masse gepflegt, und der Sinn für das Einfache, Echte und Gediegene in Kleidung und Wandel wird mehr und mehr im Volke Wurzeln fassen.» Damals gab es im Kanton Graubünden 1825 webende, 3518 spinnende Personen, 329 Hanf- und 612 Flachspflanzende. Frau Walkmeister nahm es genau. Sie erstellte ein «zahlenmässiges Ergebnis» für das textile Schaffen im Kanton.

Zindel, Textilwelten

Fabia Zindel mit Mitarbeiterin am Siebdrucktisch. (Foto: zVg)

Schaffen mit Stoff in Basel

In einem Hinterhof mitten in der Stadt Basel sitzt Fabia Zindel in ihrem Atelier. Nach dem erfolgreichen Abschluss der Fachklasse Textildesign an der Schule für Gestaltung in Basel gründete die Churerin im Jahr 1995 ihre Firma Matrix. Das Schaffen mit Stoff wurde ihr sozusagen in die Wiege gelegt. Stoffe seien in ihrer Kindheit zu Hause om­nipräsent gewesen, erzählt die Textildesignerin. Es war deshalb nur logisch, dass Fabia Zindel den Weg zu Textilem suchte, da sie bereits in Kindertagen erfahren hatte: «Aus einem Faden kann man etwas machen, das Textur, Struktur und Stabilität hat.»

​Neues Leben für die Kunst des Webens

Infolge der industrialisierten Stoffproduktion und landwirtschaftlichen Umstrukturierungen verschwand die Handweberei Ende des 19. Jahrhunderts fast ganz. Damit gingen für die Frauen auch Verdienstmöglichkeiten verloren. Um sich dagegen zu wehren, wurde im Münstertal 1928 die Stüva da tesser Val Müstair eröffnet. Heute beschäftigt die Tessanda sechs Weberinnen an 20 traditionellen Webstühlen. Verarbeitet werden Naturfasern wie Seide, Baumwolle, Leinen und Wolle. Die Tessanda hat vor allem Kunden im Tal, liefert aber auf Bestellung auch in der ganzen Schweiz.

Ein Parallelbeispiel ist die Tessitura in Val Poschiavo. Auch hier kämpfte man gegen die Abwanderung und gründete 1955 die Tessitura. An acht Webstühlen stellen heute die Weberinnen traditionelle Stoffe aus Halbleinen her. «Tra­ditionelles soll aufrechterhalten bleiben», erklärt Monica Godenzi-Zala, Geschäftsführerin der Tessitura. Daneben haben aber, wie in der Tessanda auch, moderne Stoffe und Accessoires Platz. Die Tessitura sei zwar selbsttragend, aber um an Märkte und Messen zu gehen, um neue Kunden zu generieren, fehle das Geld nach wie vor. «Noch müssen wir jeden Fünfliber umdrehen», hält Monica Godenzi-Zala fest.

Tessitura

Mittels des hin und her fahrenden Schiffchens entstehen in der Tessitura Valposchiavo traditionelle Stoffe. (Foto: Daniel Brändle)

​Vom Erfolg zur Schliessung

Nicht nur in den Südtälern brachte die Abwanderung wirtschaftliche Probleme. In der Surselva engagierte sich Pater Placidus für neue Finanzquellen. 1912 wurde in Trun die Tuchgesellschaft gegründet. Trotz eines Brandes im Jahr darauf florierte das Geschäft. Die Herstellung von Uniformen erlaubte in den 1940er-Jahren die Anschaffung von modernen Webstühlen. 1949 entstand eine neue Spinnerei. Der Fabrikneubau 1960/61 beendete allerdings die Wachstumsphase. 2001 wurde die Fabrica da ponn Trun geschlossen. Ähnlich erging es der Firma Schwendener in Sils i. D. Sie wurde 1928 gegründet und machte sich einen Namen für Bündner Wolldecken. Ausserdem produzierte sie Kamelhaardecken und Kamelhaarstoffe für Mäntel und Dekorationsstoffe. Auch die Wolldeckenfabrik musste schliesslich ihre Tore schliessen.

Einer der ältesten Textilbetriebe in Graubünden war die Firma Pedolin in Chur. Gegründet 1883, produzierte sie Halbkammgarne aus Natur- und Synthesefasern, Strickgarne, Möbelstoffe und für die Teppichindustrie. Übrig geblieben ist die heutige chemische Reinigung.

​Schurwolle, Schafe und Geissen

In die neuere Zeit der Textilgeschichte Graubündens gehört das Verarbeiten von Filz. Ihren Ursprung hat diese Verarbeitung von Schurwolle in Kirgis­tan und der Mongolei. Jurten wurden schon seit jeher aus Filz hergestellt. Nach einem internationalen Filzsymposium Mitte der 90-Jahre in Landquart wurde Filzen auch im Kanton Graubünden beliebt. 2002 wurde der Verein Filzszene Graubünden gegründet. Die Präsidentin Daniela Simeon erklärt: «Sinn und Zweck des Vereins ist, das Kunsthandwerk des Filzens weiterleben zu lassen.» Inzwischen hat der Verein knapp 90 Mitglieder und ist auch über die Landesgrenzen hinweg gut vernetzt. Die Filzwolle beziehen Vereinsmitglieder von der Wollspinnerei Vetsch in Pragg-Jenaz, welche bereits in der vierten Generation Schafwolle zu Filz- und Strickwolle verar­beitet. 60 bis 70 Prozent des gesam­-
ten Produk­tionsvolumens würden auf Filzwolle entfallen, erklärt der Inhaber des Familienunternehmens Christoph Vetsch.

Nicht weit von Chur, nämlich in Felsberg, holen sich der Textildesigner Hugo Zumbühl und der Webmeister Peter Birsfelder die Inspiration für textile Ra­ritäten aus Tierfellen. 1998 gründeten sie ihr Unternehmen Teppich-Art-Team. Ziegen und Schafe liefern das Aus-gangsmaterial für Teppiche. Schmale eingewobene Fellstreifen versetzen ein Grundgewebe von Wollgarn mit weichen Tierhaaren. Nebst anderen Prei­sen erhielten sie bereits 1999 für ihre Krea­tionen den Schweizer Design-Preis.

Vetsch in Pragg-Jenaz

Bunte Farbauswahl im Laden der Wollspinnerei Vetsch in Pragg-Jenaz. (Foto: Marietta Kobald)

​Internationaler Erfolg und ein Jubiläum

Zurück nach Basel. Im Archiv von Fabia Zindel ist in den letzten 20 Jahren und in Zusammenarbeit mit Künstlern, Designern und Architekten eine umfangreiche Sammlung von Foulards, Tabletts und Tapeten entstanden. Anlässlich ihres Firmenjubiläums hat die Textildesignerin Anfang dieses Jahres zehn Persönlichkeiten aus der bildenden und angewandten Kunst eingeladen, Objekte aus ihrer Sammlung neu zu interpretieren. Aus dem Kanton Graubünden haben das Künstlerpaar Gabriela Gerber & Lukas Bardill und der Grafiker Remo Caminada je ein Redesign entworfen. Von jedem Entwurf hat Fabia Zindel 20 Exemplare auf Stoff gedruckt und zu einer Foulardedition zusammengefasst. In weiteren Etappen des Projektes «Matrix 20 Reloaded» wurden die Neuinterpretationen fotografisch und in einer Plakatserie umgesetzt. Nach 20 Jahren ist Fabia Zindel in konsequenter Weiterentwicklung auch an internationalen Messen präsent. So etwa in Paris, Tokio, Milano, Wien, Stuttgart und Zürich.

Dass ihre 1927 geäusserte Vision auf solch vielfältige und kreative Weise in die heutige Zeit und die Internationa­lität hinübergetragen würde, hätte sich Frau Walkmeister mit ihrer Aussage im Alpwirtschaftlichen Monatsblatt des Plantahofes wohl nie träumen lassen.

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