Das Leben fliesst in der Sprache

Leta Semadenis «Amur»

Die Autorin Leta Semadeni knüpft mit «Amur, grosser Fluss» an ihren ersten Roman «Tamangur» (2015) an. Doch der Stoff beider Bücher ist unabhängig voneinander. Aus dem stillen Kind, das bei seinen Grosseltern in einem Bündner Dorf aufgewachsen war, könnte Olga geworden sein. Es gab viel Ungesagtes, das Olga mit sich herumtrug, was immer öfter an ihr nagte und sie nicht schlafen liess. Die Liebe zu einem Mann namens Radu hatte immer auch etwas Verzweifeltes an sich, sie war zu gross. Radu wollte an der Tigerzählung im Amur-Gebiet teilnehmen und einen Film drehen. Er würde mehrere Monate wegbleiben. Zwischen den beiden gab es ein ewiges Zusammenkommen und Auseinandertreiben. Durch die Ritzen ihrer Vertrautheit konnte unvermittelt die Fremdheit hervorblitzen. Vieles hätte sie Radu sagen wollen, doch sie fand die richtigen Worte nicht für das Mächtige, das sich in ihr abspielte. Doch manchmal ging ein Fenster auf und blieb Tage lang offen.

Augenblicke

Olga erlebte mit Feingefühl die Landschaft um ihr Dorf herum oder den Blick aus dem Fenster eines Hochhauses in die nächtliche Stadt. Wenn sie spricht, klingt das so: «Schwindelerregend zu wissen, dass sich hier einst ihre Vorfahren getummelt hatten: Kinder, Erwachsene, Alte mit ihren Tieren, alle unter dem gleichen Mond und einige vielleicht mit dem gleichen Stein im Herzen, immer auf der Suche nach dem erlösenden Augenblick, nach dem furchterregenden Moment, der alles Weh zunichtemachte und jeden Zweifel löschte.» Mit Radu an entlegene Orte zu reisen oder zusammen im Gras zu sitzen, auf die zackigen Berge zu blicken oder die Nachbarin Elsa zum Essen einzuladen, sind eingeschobene Teile in der Geschichte. Was diese für eine Bewandtnis mit dem Tiger und dem Fluss Amur haben, erfährt man ansatzweise im poetisch gehaltenen Text. Das Leben von Olga, Radu, Elsa oder der Katze ist fliessend. Besondere Augenblicke sind treffend beschrieben und schon vollzieht sich der Wechsel ins nächste Kapitel. Der Lebensfluss in der dahineilenden Zeit dringt dabei auch ins Bewusstsein der Leserinnen und Leser. Die Autorin erzählt in der Vergangenheitsform. Erinnerungen, Träume und Gedanken bilden ein Mosaik.

Es geht in diesem Werk um die Erforschung des inneren Kosmos, um den Ursprung von Liebe, Trauer, Einsamkeit, Kindheitserinnerungen, Verlustängste, Alltagsfreuden und das Warten … «Sie verliess ihren Platz am Fenster, füllte die Fruchtschale im Eingang mit frischen Äpfeln und begann, wie jeden Abend, den Tisch für zwei zu decken. Bald würde Radu eintreffen, er hatte versprochen, spätestens um acht da zu sein.»

Buchvorstellung in Zürich

Es ist der zweite Roman nach «Tamangur» der Engadiner Autorin. Sie studierte Sprachen, unterrichtete an verschiedenen Schulen in Zürich und Zuoz mit Arbeitsaufenthalten in Lateinamerika, Paris, Berlin und New York. Heute lebt und arbeitet sie in Lavin. Vallader und Deutsch sind die Sprachen, in denen sie sich bewegt und wohlfühlt. – Die erste Buchvorstellung des neuen Romans fand im Literaturhaus Zürich statt. Dort las die Autorin in ihrer zurückhaltenden Art mehrere Passagen vor und beantwortete die herausfordernden Fragen von Rico Valär, der im Fachgebiet romanische Literatur und Kultur tätig ist. Die Zeit zum Schreiben sei für sie, die Autorin, die Nacht. Die Texte würden am Tag überarbeitet. Sie schreibe intuitiv, ohne eigentlichen Plan. Sie sammle Material, lege es aus wie einen Flickenteppich, um damit eine Geschichte zusammenzufügen. Es sei ähnlich, wie im Brotteig zu wühlen. Manchmal würden die Gedanken wilde Sprünge machen. So zeigt sich die Richtung an, wohin es geht. Leta Semadeni denkt bei ihrer Arbeit mit den erdachten Puzzlesteinen an Architektur. Sie erlebt Glücksmomente in der Stille und fühlt sich wie in einer Einsamkeitskapsel. Unter ihren Texten gibt es Bezüge. So ist auch der Buchtitel sinnbildlich zu verstehen. Der Amur ist in Wirklichkeit Grenzfluss zwischen Russland und China. Amur steht für die Liebe, grosser Fluss für den Lebenslauf im Zeitenfluss.– Olga gelang es nicht, eine wuchtig, schmerzlich, glückliche Liebe festzuhalten.

Leta Semadeni: Amur, grosser Fluss. Atlantis Verlag, 184 Seiten, CHF 31.90

Elisabeth Bardill

Bildlegende

Leta Semadeni. (Foto: Mayk Wendt)