Wo das Gedächtnis des Oberengadins wohnt

Eingang zur Chesa Planta Samedan

Das Kulturarchiv Oberengadin
Seit 1991 beherbergt die Chesa Planta in Samedan das Kulturarchiv Oberengadin. Nun steht die Institution vor einem grossen Umzug. Ein Besuch.
Text und Bilder 
Julian Reich

Kalt ist es draussen, kalt drinnen: Auch wenn der Ofen seit den frühen Morgenstunden eingefeuert wird, so mag er den Raum, in dem das Büro des Kulturarchivs Oberengadin eingerichtet ist, noch nicht recht zu heizen. «Am Nachmittag, so gegen drei Uhr, wird es langsam warm», sagt Diana Pedretti. Die junge Mitarbeiterin des Archivs schenkt Tee ein und setzt sich an den Holztisch, an dem bereits Dora Lardelli, die Leiterin des Archivs, Platz genommen hat. Lardelli, von Haus aus Kunsthistorikerin, war schon dabei, als das Kulturarchiv gegründet wurde. 1988 war das, und der Grund war eine Ausstellung, die sie mit dem Künstler Giuliano Pedretti kuratierte. Das Thema damals: «Das Oberengadin in der Malerei». Dabei kamen Lardelli und Pedretti in Kontakt mit so manchen Einheimischen und ihren auf Dachböden und in Kellern gelagerten Erinnerungen und beschlossen, dafür einen Speicher ins Leben zu rufen, um diese nicht zu verlieren.
Dabei gab es das damals noch gar nicht: Der Typus des Kulturarchivs war zumindest in Europa noch völlig unbekannt. Zwischen Staats- und Gemeindearchiven lag nichts – und so drohte eine ganze Reihe an Kulturgütern die Vernichtung durch Nachlässigkeit, Entsorgung oder Zerstörung. Das Kulturarchiv Oberengadin ist denn auch eine Pionierinstitution, die zuletzt in vielen Regionen des Kantons Nachahmer gefunden hat. Gerade in jüngster Zeit haben sich etwa in der Surselva oder im Domleschg neue Vereine gegründet, die demselben Zweck dienen. Und die sich nicht selten das Kulturarchiv Oberengadin zum Vorbild nehmen. «Bemerkenswert ist, dass wir seit über 30 Jahren mit denselben Vereinsstatuten arbeiten», sagt Lardelli.

 

Dora Lardelli (l.) und Diana Pedretti.

Kostbare Pflanzen

In diesen drei Jahrzehnten ist das Kulturarchiv stetig gewachsen, mehr als 100 000 Fotografien und Glasplattennegative, zahlreiche Ölbilder, Aquarelle, aber auch und vor allem Dokumente, Briefe, Manuskripte, Geschäftsberichte sind dazu gekommen. Und mehrere Herbarien, kunstvoll gepresste und gestaltete Sammlungen von Pflanzen aus der Gegend. Diese standen im Zentrum, als das Kulturarchiv sein 25-Jahr-Jubiläum feierte und der Künstler Mark Blezinger die Fassade des Hauses mit unzähligen floralen Mustern beleuchtete.
Fünf Angestellte in verschiedenen Pensen arbeiten heute für das Kulturarchiv, hinzukommen Zivildienstleistende und viele Freiwillige, die manchmal über Wochen und Monate hinweg an den Beständen arbeiten. «Meist interessieren sie sich für einen bestimmten Nachlass und katalogisieren diesen. Daraus entstehen oft Forschungsarbeiten, die uns wiederum zugutekommen», sagt Lardelli.

 

Wie ein Puzzle

Wer lange sitzt, dem wird schneller kalt. Also machen wir uns auf einen Rundgang durch die Räume des Archivs. Es geht durch den grossen Mittelgang der Chesa Planta zur Kellertreppe. Weiter unten sind die Depoträume des Archivs eingerichtet. Für viele Archivalien mag die Temperatur angemessen sein – für Besucher eher weniger. Unter gewölbten Kellerdecken liegen Archivschachteln auf langen Regalen. Fein säuberlich geordnet zwar, doch kaum ein Plätzchen scheint mehr frei. «Wenn ein grösserer Bestand hinzukommt», sagt Pedretti, «ist es wie ein Puzzlespiel. Was wir hier herausnehmen, muss irgendwo anders wieder hineinpassen und anschliessend im Inventar nachgeführt werden.»
Lardelli zieht derweil eine Schachtel hervor. Mit Johann Luzi Krättli ist sie beschriftet. Der 1812 geborene Naturforscher aus Bever war einer jener Männer, der die Pflanzenwelt des Oberengadins erkundete und ihre Funde in Herbarien konservierte. Ein Alpen-Moosfarn beispielsweise, ein filigranes Pflänzchen mit Blättchen so fein wie Härchen. An diesem Objekt, irgendwo zwischen Forschungs- und Kunstobjekt, zeigt sich eine der Herausforderungen, vor der das Kulturarchiv steht. Einer der Zweige ist abgebrochen, ein Teil des Pflänzchens zerbröselt – so dauerhaft das Objekt konserviert ist, für die Ewigkeit hält es wohl nicht.

 

Von einer Chesa Planta in die andere

Die optimale Konservierung der Archivalien ist in nicht allen Räumen, die in Samedan zur Verfügung stehen, möglich. Zudem sind die Platzgrenzen ausgeschöpft. Schon länger hat man sich deshalb auf die Suche nach einem neuen Standort gemacht. Fündig geworden ist das Kulturarchiv in Zuoz, wo ebenfalls eine Chesa Planta steht. Das Stammhaus der Engadiner Plantas soll demnächst renoviert und ausgebaut werden, und das Kulturarchiv wird neben mehreren Wohnungen Platz finden. Die Räume werden modern eingerichtet und wunschgemäss temperierbar sein. Sodass neben konservatorisch idealen Räumen auch mehr Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, was gerade in der aktuellen Corona-Situation im Samedaner Haus oftmals nicht der Fall war. Geht alles nach Plan, so zieht das Kulturarchiv im Sommer 2022 um. Es wird eine logistische Herausforderung darstellen, den gesamten Bestand zu sichten, optimal zu verpacken und zu transportieren, am neuen Standort einzuordnen und alle Verzeichnisse nachzuführen. «Unser Ziel ist es, den Umzug ohne eine längere Schliessung vorzunehmen. Sonst würden sich die Anfragen stauen und wir hätten anschliessend zu wenig Kapazitäten, um diesen überhaupt nachzukommen», sagt Lardelli.
Auch einem anderen wichtigen Aufgabenbereich kommt der neue Standort entgegen: Das Kultur­archiv wird eigene Ausstellungsräume haben. Denn seit jeher grossgeschrieben wird die Vermittlung. So richtete das Archiv regelmässig gemeinsam mit anderen Organisationen Ausstellungen aus, etwa mit dem Museum Sils oder dem Atelier Segantini in Maloja. «Mit jedem Objekt, das zu uns kommt, möchten wir eine Geschichte erzählen», sagt Lardelli. Dabei kann es auch vorkommen, dass das Archiv Bestände aufkauft – was jedoch nur durch die Beteiligung von Sponsoren möglich ist. Hinzu kommen Publikationen und in jüngerer Zeit auch selber produzierte Filme, für die das Team Zeitzeugen befragt und so einen wichtigen Beitrag zur Oral History der Region leistet.
Auch einem anderen wichtigen Aufgabenbereich kommt der neue Standort entgegen: Das Kultur­archiv wird eigene Ausstellungsräume haben. Denn seit jeher grossgeschrieben wird die Vermittlung. So richtete das Archiv regelmässig gemeinsam mit anderen Organisationen Ausstellungen aus, etwa mit dem Museum Sils oder dem Atelier Segantini in Maloja. «Mit jedem Objekt, das zu uns kommt, möchten wir eine Geschichte erzählen», sagt Lardelli. Dabei kann es auch vorkommen, dass das Archiv Bestände aufkauft – was jedoch nur durch die Beteiligung von Sponsoren möglich ist. Hinzu kommen Publikationen und in jüngerer Zeit auch selber produzierte Filme, für die das Team Zeitzeugen befragt und so einen wichtigen Beitrag zur Oral History der Region leistet.

 

Vico machts vor

Apropos Erfolge: Wir betreten einen der wenigen beheizten Kellerräume und entdecken eine Nische, aus der es glänzt. Hier liegt der Nachlass von Vico Torriani, dem zu Lebzeiten wohl bekanntesten St. Moritzer. Neben seinem Strohhut stehen seine Auszeichnungen, ein Bambi von 1995, ein glänzender Euro Crystal Globe, ein goldenes Mikrofon. Der Bestand umfasst ausserdem Plakate, Filme, Fotos, Schallplatten und seine Gitarre. Torrianis Memorabilia sind sorgsam präsentiert, und doch, irgendwie wünscht man ihnen, dass sie in Zuoz dereinst einen etwas prominenteren Ort erhalten.