Die Kunst des Wirt­schaftens im «Herzen ­Europas»

Val Müstair

Das Holzhandwerk ist noch ­immer ein wichtiger Wirtschaftsmotor in der Val Müstair.

Von der Attraktion und den Schwierigkeiten der Wirtschaft im Münstertal
Wer in der Randregion Val Müstair einen wirtschaftlich rentablen Betrieb führen möchte, muss innovativ sein und Qualität bieten. Und viele haben mit Personalproblemen zu kämpfen, denn die Jugend­lichen ziehen schon für die Ausbildung in die Zentren und kommen selten zurück. Ein Besuch in fünf Unternehmen, die aus der Not eine Tugend gemacht haben.
Text 
Fadrina Hofmann
Bilder 
Mayk Wendt

«Natur pur mit Leib und Seele», so lautet der Slogan des Unternehmens Amar in Müstair. Seit rund 20 Jahren führt Marcus Malgiaritta die Schrei­nerei, die sich auf Arvenmöbel spezialisiert hat. «Das Holz, das hier verarbeitet wird, stammt zu 100 Prozent aus der Region», sagt er stolz auf einem Rundgang durch die modern eingerichtete Schreinerei. Zwei Lehrlinge sind gerade dabei, einige Aufräumarbeiten zu machen. Insgesamt sind 15 Mitarbeiter im Betrieb angestellt, eine Mischung aus Einheimischen und Südtirolern. Seit 1936 gibt es die Schreinerei der Familie Malgiaritta, gegründet vom Grossvater. Der Vater legte den Grundstein für den heutigen Betrieb, indem er vor 45 Jahren begann, an grossen Gewerbeausstel­lungen wie Olma oder Muba teilzunehmen, und indem er den heutigen Namen erfand: Amar bedeutet «lieben» auf Romanisch. Heute hat Amar Kundschaft in der ganzen Schweiz. 90 Prozent der Produkte werden ausserhalb der Val Müstair verkauft. Nur die Hälfte der Arbeit besteht in der Anfertigung von Arvenmöbeln, die andere Hälfte ist Innen­ausbau. «Zehn Prozent des Umsatzes bleiben auf dem Pass liegen», sagt Malgiaritta. Damit meint er die Transportkosten, Kost und Logis für Mitarbeiter, Benzin usw. Das sei nun mal der grosse Nachteil, in einer Randregion zu produzieren, meint der Geschäftsinhaber. Doch der Standort Val Müstair habe auch Vorteile. «Die Qualität unserer Produkte und die Authentizität kommen bei unseren Kunden gut an», meint Malgiaritta. Amar fertigt Produkte für das obere Preissegment an. Die Eurokrise spürt der Betrieb ebenso, wie die Auswirkungen der Zweitwohnungsinitiative. Malgiaritta hofft, dass sein Nischenangebot sich im hart umkämpften Markt dennoch behaupten kann. «Unsere Devise lautet: nachhaltig, langfristig», betont der Unternehmer.

Bodenbelag Val Müstair

Wir stehen alle auf Boden­belägen, manchmal auf jenen aus der Val Müstair.

Das internationale Grossunternehmen

In Müstair sind die meisten Betriebe des Tals ansässig. Auch die Lico produziert in der Grenzgemeinde: Fertigböden aus verschiedenen Materialien, vorwiegend aus Vinyl, Kork und Lino­leum. Ein auffällig moderner Bau ist der Hauptsitz des international tätigen Unternehmens. Rund 90 Angestellte beschäftigt der Betrieb. Alfred Lingg sitzt in seinem weitläufigen Büro an einem langen Tisch für Geschäftsgespräche. Er ist gemeinsam mit Edwin Lingg der Eigentümer und Geschäftsführer der Lico, vier weitere Brüder arbeiten im Unternehmen mit. Die Brüder sind Südtiroler. Alfred Lingg lebt mit seiner Familie im nahe gelegenen Mals, also in Italien. Dass das Unternehmen auf Schweizer Boden steht, hat seinen Grund: «swiss made». «In Russland, China oder den USA hat ‹swiss quality› einen hohen Wert», erklärt Lingg. Neun Jahre lang hat Lico im Südtirol produziert, 2008 ist der Betrieb in die Schweiz übersiedelt. ­Lico exportiert über 90 Prozent seiner Produkte. Zu den Kunden gehören Grosshändler und Importeure. Deutschland ist der Hauptabsatzmarkt für Lico. Ein grosser Teil der Produkte wird über den Reschenpass nach Innsbruck (Österreich) gebracht und dort mit dem Zug weitertransportiert. Lingg empfindet die Val Müstair nicht als peripher, im Gegenteil. «Wir sind hier im Herzen Europas», meint er. Lico ist das grösste Unternehmen im Tal, die meisten Mitarbeiter sind Grenzgänger, die Produktionsstätte ist kein Lehrbetrieb. Und doch profitiert die Val Müstair davon, dass Lico seinen Standort in der Fusionsgemeinde hat. Das Unternehmen bringt Wertschöpfung und Steuereinnahmen. «Wir beschäftigen auch viele Handwerker aus dem Tal», betont Lingg.

Tessandra Val Müstair

Die Tessanda ist dank Qualität eine Erfolgs­geschichte.

Der Traditionsbetrieb

Handwerk ist die Spezialität der Tessanda Val Müstair. Die Handweberei in Sta. Maria hat eine lange Tradition. Hier werden Textilien für Heim, Küche und Bad hergestellt und hier wird Bekleidung gewoben. Die Tessanda ist Manufaktur und Kunsthandwerk. Seit einigen Jahren ist die Handweberei eine Stiftung. Es gibt eine professionelle Unternehmensführung und die Möglichkeit, den Beruf der Handweberin zu erlernen. Neun Mitarbei­terinnen und zwei Lehrtöchter sind im Unter­neh­men angestellt. «Die Tessanda ist ein wichtiger Lehrbetrieb im Tal», sagt Stiftungspräsidentin Gabriella Binkert Becchetti. Sie steht im schmucken Laden der Tessanda, umgeben von Schals, Kulturbeuteln und Tischdecken. «Ich wage zu behaupten, dass wir hier die besten Handweberinnen der Schweiz beschäftigen», ergänzt sie. In der Tessanda werden zudem mehrmals im Jahr die Blockkurse für Textilgestalterinnen aus der ganzen Schweiz durchgeführt. In Sta. Maria werden nur natürliche Materialien verarbeitet, wie Wolle und Seide. Hier wird das traditionelle Handwerk als Kulturgut bewahrt und es werden neue Produkte entwickelt. Auch für den Tourismus spielt die Handweberei eine bedeutende Rolle, denn viele Gäste besuchen die Manufaktur im Herzen von Sta. Maria. Die Tessanda ist fest in Frauenhand. Die meisten Angestellten arbeiten im Teilpensum. Seit drei Jahren ist im Betrieb eine Anlehre möglich. Dieses Angebot ist vor allem bei Müttern im Tal beliebt. Die Tessanda steht laut Binkert Becchetti auf soliden Beinen, die Wirtschaftskrise tangiert sie kaum. Fast die gesamte Ware wird in der Schweiz verkauft – 50 Prozent im Laden, 50 Prozent im Web­shop. «Wir profitieren davon, dass die Val Müstair als Bergregion ein Sympathieträger ist», meint die Stiftungspräsidentin.

Schaiblettas, Val Müstair

Mit Schaibiettas einen schweizweiten Erfolg gefeiert.

Der Spezialitätenvertrieb

Nur wenige Schritte von der Tessanda entfernt befindet sich Meier Beck, eine Bäckerei mit Dorf­laden und Café. Hier herrscht meistens geschäftiges Treiben. Meier Beck ist ein Treffpunkt für Einheimische und Gäste. Spezialitäten aus der Re­gion, wie die Schaibiettas – original Münstertaler Kekse aus Haferflocken und Zucker – sind das Hauptgeschäft von Lucia Meier und ihrem Lebenspartner Giancarlo Marco De Santis. 83 Prozent der Produkte werden in der ganzen Schweiz versandt. Meier Beck konnte grosse Partner wie Coop, Globus oder Reformhaus Müller für sich gewinnen. Private Kunden haben Meier und De Santis sogar in Übersee. Ihr Fokus auf Bio und Slow Food bewährt sich. Mehrmals ist die Bäckerei bereits für ihre Produkte ausgezeichnet worden, unter anderem von der SRF-Sendung «Kassensturz» für die beste Bio-Nusstorte. «Wir pro­fitieren davon, aus einer Randregion zu stammen, denn so sind wir speziell», sagt Meier. Mehl, Rahm, Butter, Honig – alles stammt aus der Re­gion. «Qualität ist bei uns kein Zufall», betont De Santis. Die Nationalparkregion sei für ihr Nischenprodukt von zentraler Bedeutung. Das Paar hat den Betrieb vor sechs Jahren von Meinrad Meier übernommen. «Mein Vater hat früh erkannt, dass man die Val Müstair in die Welt hinaustragen muss, um Erfolg zu haben», erzählt Lucia Meier. Heute muss Meier Beck praktisch kein Geld für Werbung ausgeben, denn der Name hat sich gesamtschweizerisch etabliert. Nun möchten Meier und De Santis gemeinsam mit ihren 22 Mitarbeitern den internationalen Markt erobern.

Der Wirtschaftsmotor des Tals

Die Nummer 1 der Wirtschaftsunternehmen der Val Müstair liegt weder in Müstair noch in Sta. Maria, sondern hoch ob Tschierv, an der Grenze zum Nationalpark. Das Skigebiet Minschuns wirbt zwar mit «klein und fein», generiert aber einen Umsatz von sechs bis acht Millionen Franken jährlich für das Tal. «Die 30 000 bis 40 000 Ersteintritte im Jahr tragen uns», sagt Vito Stupan, Präsident der Sportanlagen AG. Er steht auf der Terrasse des Bergrestaurants «Alp da Munt» und geniesst die Sonne. Heuer feiert das Familienskigebiet das 40-jährige Bestehen. Drei Skilifte gibt es. In den letzten Jahrzehnten waren die Investitionen im Skigebiet gering. Nun liegen Pläne für eine neue Zuliefererbahn sowie für eine Beschneiungsanlage und eine Talabfahrt ins Dorf vor. «Damit wollen wir den Betrieb für die Zukunft sichern», erklärt Betriebsleiter Daniel Pitsch. Diese Investition ist allerdings nur im Zusammenhang mit der Realisierung eines neuen Ressorts in Tschierv möglich. Stupan und Pitsch setzen grosse Hoffnungen in das neue Projekt. Gemeinsam mit der Skischule beschäftigt die Sportanlagen AG rund 30 Mitarbeiter. Seit Jahren bleiben die Gästezahlen konstant und die Jahresrechnung kann stets schwarze Zahlen aufweisen. Viele der Schneesportler in Minschuns sind Stammgäste. 80 Prozent der Gäste sind Schweizer, der Rest stammt aus Deutschland, Italien und Belgien. Minschuns besticht mit fa­miliärer Atmosphäre und tiefen Preisen. Die Geschäftsleitung fürchtet aber einen baldigen Einbruch der Gästezahlen, weil die Infrastruktur nicht zeitgemäss ist. «Wenn wir das neue Projekt nicht umsetzen können, sind wir verloren», meint Stupan. Und dann würde der Hauptmotor der Münstertaler Wirtschaft zum Erliegen kommen.

Weitere Infos

Die Autorin
Fadrina Hofmann ist Regionalredaktorin der ­Somedia für das Engadin und die Südtäler. Sie lebt in Scuol.
fadrina.hofmann@somedia.ch

Online
www.amar-ag.c
www.lico.ch
www.tessanda.ch,
www.meierbeck.ch
www.minschuns.ch