Schlafen in der Geschichte

Die Aura historischer Räume verhilft nicht immer zu einer geruhsamen Nacht
Text 
Julian Reich

Es gibt Menschen, die schlafen selten gut in Hotelbetten. Ich gehöre nicht zu ihnen, zum Glück. Aber ich frage mich dennoch, weshalb das so ist. Obs am Bett liegt oder der Temperatur oder der Luft, die eben anders ist, als es der Körper gewohnt ist. «Fühlen Sie sich wie zu Hause», hört man ja an Rezeptionen oft, aber das hilft nicht wirklich. Denn eigentlich ist es ja gerade das, was man nicht möchte, wenn man in die Ferien fährt: Sonst müsste man ja gar nicht erst weg von zu Hause. 

Und ich frage mich in Hotelzimmern gern, wie viele Menschen es vorher schon betreten, darin geschlafen, sich aus- und angezogen haben. Wie viele sich darin geliebt, gestritten, versöhnt haben. Sind es Hunderte, gar Tausende? Von unsichtbaren Energierückständen halte ich wenig, dennoch zweifle ich nicht daran, dass Räume Qualitäten haben, die man nicht immer in Worte fassen kann. Mehr noch Räume, die eine Geschichte haben. Man denke etwa an die Hitchcock-Suite im «Badrutt’s Palace» in St. Moritz, wo man im selben Bett wie der grosse Regisseur nächtigen kann. Oder an das Hotel «Chalavaina» in Müstair, in dem seit Jahrhunderten Menschen ein und aus gehen. Da bleibt wohl schon etwas zurück, auch wenn man es mit blossem Auge nicht zu sehen vermag. 

Das «Badrutt’s Palace» haben wir in dieser Ausgabe über historische Gaststätten ausgespart, obschon es regelmässig zum besten Hotel des Landes gewählt wird und eine einmalige Geschichte besitzt. Auch viele andere bedeutende Häuser bleiben unerwähnt. Aber das «Chalavaina» haben wir besucht. Es liegt keine Weltreise von St. Moritz ins Münstertal, doch eine andere Welt als das mondäne St. Moritz ist es allemal. Dass das «Chalavaina» just für das nächste Jahr zum «Historischen Hotel des Jahres» gewählt worden ist, ist eine glückliche Fügung. 

Andere Artikel widmen sich etwa dem zerstörten Hotel «Waldhaus Vulpera», dem Hotel «Weiss Kreuz» an der Transitroute Splügen und den beiden Hotels «Waldhaus Sils» und «Kronenhof Pontresina» – beide bis heute von Familien geprägte Traditionshotels. Die Beispiele erzählen auch ein Stück Bündner Tourismusgeschichte. Waren es am einen Ort ehemalige Herbergen für Pilger und Säumer, die nach und nach zu Hotels erwuchsen, waren es andernorts Neubauten für den Tourismus, der Hand in Hand mit dem frühen Gesundheitstourismus entstand. 
Apropos Engadin: Mit dieser Ausgabe endet unsere Serie über die «Engadinerinnen» der Autorin Angelika Overath. Zwei Jahre lang hat sie uns mit den Lebensgeschichten von Frauen bekannt gemacht, die das Engadin auf die eine oder andere Weise prägen. Wir danken Angelika herzlich dafür, dass wir ihre Texte abdrucken durften – und freuen uns bereits auf das Buch mit den gesammelten «Engadinerinnen», das in den nächsten Monaten erscheinen wird. 

Jetzt wünsche ich Ihnen aber erst einmal gute Lektüre – und bei Ihrem nächsten Hotelaufenthalt einen geruhsamen Schlaf. 

Julian Reich
Redaktionsleiter