Die «Cuschina naira», der rauch- und russgeschwärzte Küchenraum, ist heute Teil des Restaurants. (Foto: Mayk Wendt)
Das Haus ist alt, uralt, älter als die Eidgenossenschaft, deren Entstehen ja auf das Jahr 1291 datiert wird. Rund 40 Jahre vor dem Schwur auf dem Rütli wurden hier unten in der südöstlichsten Ecke der Schweiz schon Gäste, Pilger und Säumer vor allem, beherbergt.
Die rauchgeschwärzten Küchengewölbe, die heute noch im Haus zu sehen sind, könnten davon Geschichten erzählen, für wen da ab den Jahren um 1250 gekocht und gebraten wurde. Zum Beispiel für Benedikt Fontana, den Bündner Freiheitshelden der Schlacht an der Calven rund 250 Jahre später. Im Mai 1499. Aber davon später.
Die «Chasa Chalavaina» ist vermutlich die älteste Herberge der Schweiz, als ältestes Hotel im Tourismusland Schweiz wird sie bezeichnet. Und sie hat eine grosse Adresse: Plaz Grond, der grosse Platz, mitten im Dorf Müstair, wo die Schweiz bald an ihre Grenzen stösst und ins geschichtsträchtige Vinschgau, ins Südtirol übergeht. Und wo das weltberühmte Kloster St. Johann steht.
Die «Chasa Chalavaina»: Das stattliche Haus mit dem offenen Dachgeschoss, wie es seit den 1250er-Jahren auf der Plaz Grond ein Zeichen setzt. (Foto: Hotel Chalavaina)
18 Zimmer stehen heute den Gästen zur Verfügung, alle akkurat instand gestellt. Die Stiftung Chalavaina und die ETH zeichnen dafür verantwortlich, dass die Elemente von damals mit sorgfältig ausgewähltem Neuem kombiniert wurden. Das Holz der Arven oder der Zirbelkiefer, wie der Baum dann hier unten im Südtirol bald benannt wird, verströmt sowohl im Restaurant wie in den einfachen Zimmern auch nach all der Zeit seinen unvergleichlichen Duft. Und auf den Betten liegen Kissen und Decken mit eben diesen Spänen aus dem Arvenholz gefüllt. Sie sorgen für guten und tiefen Schlaf abseits des Trubels, der auf der anderen Seite des Ofenpasses, im Engadin, oft herrscht. Und dieser Ofenpass und seine Parallel-Täler, das Val Vau und das Val Mora, sind die ausgemachten Perlen der Biosfera Val Müstair. Vorbei am Piz Daint und am Piz Dora steigen die Wanderwege vom Ofenpass ab ins Tal, zuerst nach Santa Maria. Das verkehrsgeplagte Dorf beherbergt verschiedene Juwelen, die unbedingt einer Besichtigung bedürfen: Da ist zuerst die Muglin Mall zu erwähnen, das älteste noch funktionstüchtige Mühlenwerk der Schweiz. Zwei tiefschlächtige Straubenräder treiben mit der Kraft des Bergbachs Muranzina eine Mühle für Getreide und eine Stampfe für den Flachs an. An der engen Hauptgasse im Dorf steht La Tessanda seit 95 Jahren («An der Zukunft weben» – Terra Grischuna 5/2023). «Es klappert, es kracht und knarrt in der Handweberei Tessanda», so steht es im Einführungstext auf der Homepage. Hochwertige Textilien aus Leinen und Halbleinen werden hier gewoben und im eigenen Laden verkauft. In der heutigen «Chasa Chalavaina» ein Dorf weiter unten, in Müstair, sind alle Tische im Restaurant mit eben diesen werthaltigen Tischdecken und Servietten gedeckt.
Weiter dem Verlauf des Rom folgend ist schon bald der romanische Turm des Klosters St. Johann in Müstair zu sehen. Das Kloster wurde 1983 in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen und zieht heute vielleicht weniger Pilger, dafür mehr Wanderer, historisch Interessierte und Touristen an. Die Klosteranlage prägt ein Zusammenspiel verschiedenster Baustile aus unterschiedlichen Epochen. Ein Höhepunkt neben der Kirche ist die ganz in Weiss gehaltene Heiligkreuzkapelle aus der Gründerzeit, dem 8. Jahrhundert.
«La Sulagliva» heisst das Zimmer, weil hier besonders viel Sonnenlicht einfällt. (Foto: Lili Feuerstein)
Durch einen gotischen Torbogen tritt man über Katzenkopfpflaster ein in dieses im Inneren verwinkelte Haus, das in einer sanften Renovation 2021 ein- und ausgebaut wurde. Zuerst stand da ein Wohnturm aus dem 10./11. Jahrhundert, der als Pilger- und Säumer-Herberge diente, wo eben diese Pilger und Säumer abstiegen, wo Pferde und Maultiere in den nebenstehenden Ställen für die nächste Etappe genährt und getränkt wurden. Ofenpass und Umbrail waren in dieser Zeit die bevorzugten Wege von Süden nach Norden und umgekehrt.
Das breite Gebäude an der Plaz Grond hatte damals einen offenen Dachraum mit sichtbarem Balkenwerk, eine Bauweise, wie sie damals im Tirol schon verbreitet war, um Fleisch, Früchte und Kräuter zu trocknen und zu dörren. Der Wohnturm wuchs in die Breite und Tiefe und wurde nach und nach von einer einfachen Herberge für Pilger und Säumer zu einem Hotel umgebaut. 1958 kauften Carl und Ida Fasser das Haus und entwickelten es dann bescheiden immer weiter, bis die Leitung an den Sohn Jon Fasser überging. Er besuchte zuvor während zwei Jahren eine landwirtschaftliche Schule, war sieben Jahr als Polizist in Zug tätig und wurde dann in Müstair Hotelier. Er lebte das Haus und er lebte im Haus. Wenn man ihn suchte, rief man am besten ins Haus nach ihm und hörte: «Ich bin da» – und «da» hiess, er lag auf der langen Holzbank im schwarzen Küchenraum für ein Nickerchen. In der Cuschina naira, der schwarzen Küche, wurde jahrhundertelang auf offenem Feuer gekocht. Es gab keinen Kamin, der Rauch sammelte sich im Gewölbe und schwärzte es komplett ein. Heute kann in der Cuschina naira an einem langen Tisch gegessen werden, ein spezieller und begehrter Platz im heutigen Restaurant.
Ganz einfach war sie damals, die «Chasa Chalavaina», alles war analog, es gab keine Homepage, es gab keine Rezeption, es gab nur eine rudimentäre Speisekarte. Aber es gab immer schon Gäste auch über den Zeitpunkt hinaus, da Jon Fasser mit 79 Jahren das Gefühl hatte, er möchte nun das Haus abgeben, in andere Hände übergeben.
Und in diese neuen Hände ist nun das historische Hotel, das im nächsten Jahr die Auszeichnung «Historisches Hotel 2024» erhält, übergegangen. Eine Stiftung führt das Haus. Die Räume sind sehr dezent restauriert und mit Kunst ausgestattet. Mit spezieller, zeitgenössischer Kunst, die den Kontrapunkt setzt zum historischen Ensemble. So sind an der Rückwand der Rezeption zwei Werke von Sol le Witt zu sehen, im Eingangsbereich hängt ein Bild von Richard Nonas, in den Zimmern weitere Bijous sehr zurückhaltend platziert. Ulrich Veith, der Direktor des Hauses und Präsident der Stiftung, ist sehr froh damit. «Alle Künstlerinnen und Künstler, deren Werke an den Wänden der Chasa Chalavaina zu sehen sind, haben einmal hier gewohnt, kennen das Haus.»
Jedes der 18 Zimmer hat sein Schloss, und die Schlösser haben ihre Geschichten, und diese Schlösser werden von einem lokalen Schlosser aus Taufers mit viel Liebe zum Detail gepflegt und gangbar gemacht und gehalten.
«La Diogena», das kleinste Zimmer im Haus erinnert mit seinem Namen an das Fass des Diogenes. (Foto: Lili Feuerstein)
«Am 21. Mai 1499 steht an der Brüstung der Laube, laut Legende, der Bündner Heerführer Benedikt Fontana in seinem Kriegswams.» So steht es im Buch «Chasa Chalavaina» von Christian Schmidt, Felix Ramspeck und Doris Quarella. Dem bischöflichen Hauptmann Benedikt Fontana, dessen Name in der Geschichte der Eidgenossenschaft gleichauf steht mit Arnold Winkelried oder Wilhelm Tell, wurde 1903 in einem nach ihm benannten Park mitten in der Hauptstadt Chur ein Denkmal von Richard Kissling erstellt. Der Kriegsrat auf der Laube der «Chasa Chalavaina» vom 21. Mai 1499 ging einem Angriff auf die von Maximilian I. angeführten Truppen voraus, bei dem eine kühne Taktik in der Besiegung des weit überlegenen habsburgischen Heers endete: In der Schlacht an der Calven – oder romanisch eben Chalavaina – schlugen die zahlenmässig unterlegenen Eidgenossen den Gegner vernichtend und zogen brandschatzend und plündernd weiter durch das ganze obere Vinschgau und vernichteten die Dörfer Mals, Glurns und Laatsch. Fontana starb bei diesem Angriff. Die Bündner verfolgten die fliehenden schwäbischen Truppen bis weit ins Vinschgau hinunter. In der Folge sollte sich herausstellen, dass der Sieg an der Calven die eigentliche Geburtsstunde des Freistaats der Drei Bünde, des Gotteshausbunds, des Grauen Bunds und des Zehngerichtebundes, also die eigentliche Geburtsstunde Graubündens war. Und hätten die Bündner mit ihren eidgenössischen Verbündeten diesen Krieg nicht gewonnen, sähe die Schweiz heute wohl anders aus.
Die Kammern
«Kammern» werden sie genannt, die Zimmer der «Chasa Chalavaina». Jede hat einen Namen, und jede hat eine Geschichte. «La Sulagliva» heisst zum Beispiel eine, weil hier besonders viel Sonnenlicht einfällt. Eine andere trägt den Namen «La Diogena» – es ist das kleinste Zimmer im Haus und erinnert mit seinem Namen an das Fass des Diogenes. Eine Strategie von Ulrich Veith und der Stiftung Chasa Chalavaina ist es, im Haus zeitgenössische Kunst zu zeigen. Im Zuge der sanften Renovation im Jahr 2021 haben unter der Leitung der ETH-Professorin Silke Langenberg Studierende der ETH alle Räume erhoben und dokumentiert. Es gab zuvor keine Pläne des Hauses, der erste Stock ist verwirrend verwinkelt. «Die baulichen Veränderungen lassen sich wie Jahrringe an einem Baum ablesen», steht im Buch «Chasa Chalavaina». 770 Jahrringe sind es inzwischen. Das Haus hat sich «gehäutet», eine Metamorphose durchlebt aus der Zeit um 1250 bis in die heutige, moderne Zeit. So steht denn auch im Buch «Chasa Chalavaina»: «Mit seiner über tausendjährigen Geschichte bedarf das Haus keiner aufgesetzten Reminiszenz an früher: Die Mauern und Balken haben die Lebenszeichen zahlloser Generationen aufgenommen, sie sind voll davon. Nun strahlen sie aus, was sie gespeichert haben, wie der Kachelofen die Wärme des verbrannten Holzes.»