Ein zweites Julier-Wunder?

Visualisierung des «Ospizio»-Turms. (Foto: zVg)

Origen plant einen neuen Turm

Im obersten Stock des roten Julierturms liess es sich gut über gewisse Dinge nachsinnen. Über das Vergehen der Zeit zum Beispiel, wenn man nach draussen auf die steilen Felshänge blickte und dem Wind dabei zuschaute, wie er über den Lej da las Culuonnas tanzt. Seinen Namen hat der kleine See von den beiden Säulen aus römischer Zeit, die ein Heiligtum am Passübergang markieren.
 
Dem Turm Sichtweite der römischen Relikte war ein relativ kurzes Leben beschieden. 2017 war er eingeweiht worden, ein raumplanerisches Wunder, wie Bundesrat Alain Berset es formulierte. Dass an solch einem Ort überhaupt etwas Neues gebaut werden durfte, schien unmöglich. Und möglich wurde es nur, weil von Anfang an klar war, dass irgendwann die Zeit des Rückbaus kommen würde. Nur so konnten alle einspracheberechtigten Organisationen zu einem Ja bewegt werden. 
Nun ist er Geschichte, der rote Turm, im September und Oktober sollten die Rückbauarbeiten erfolgt sein. In den sieben Jahren seines Bestehens hatte das Kulturfestival Origen ihn zu einem Wahrzeichen der Bündner Kultur gemacht – notabene mit ebenso vielen auswärtigen Kunstschaffenden wie einheimischen. Aus aller Welt kamen die Tänzerinnen und Tänzer nach Graubünden, aus den Balletthäusern in Wien, Petersburg, Hamburg und Paris, um in diesem singulären Bau aufzutreten. Und Origens Chöre besangen ihn mit Werken von Brahms, Rachmaninow, Derungs, Dolf und Richter. 

Mehr statt weniger

Im August lud Origen-Intendant Giovanni Netzer auf den Pass, um Abschied zu nehmen, aber auch, um die Zukunft von Origen, der mittlerweile grössten Kulturinstitution Graubündens, vorzustellen. In der Einladung war noch der Gedanke formuliert, die Zukunft könnte auch eine Verkleinerung bringen, ein Zurück zur Bescheidenheit. Aber davon war dann nicht mehr viel zu hören. 

Stattdessen stellte Netzer eine neue Vision vor: Einen neuen fünfstöckigen Turm, konstruiert aus vielen auf ein Eck gestellten Dreiecken. Die Vision ist gross und schon reichlich konkret, wie es in den Unterlagen heisst: «Der Bau empfängt mit einer hohen Eingangshalle, die den Besucher willkommen heisst. Im ersten Obergeschoss dokumentiert eine Ausstellung den jahrtausendealten Passverkehr. Im darüberliegenden Geschoss sind zwölf einfache Zimmer untergebracht, in einfachster, monastischer Bauweise. Darüber befindet sich das Refektorium, der gemeinsame Speisesaal, der Passanten zur Stärkung dient und Kulturbesuchern einfache Mahlzeiten ermöglicht. Darüber eröffnet sich der atmosphärische Kultursaal, der mit seinen verjüngenden Emporen einen einmaligen Blick auf die schwebende Bühne und in die weite Landschaft gewährt. Im obersten Geschoss befindet sich eine offene, gedeckte Dachterrasse, die als Freilichttheater bespielt werden kann und Wind und Wetter an der Wettergrenze erfahrbar macht.» 

Die Idee mit dem Titel «Ospizio», die lediglich eine Projektskizze sei, geht von einem Fassungsvermögen von 200 Besuchern, einer Gebäudehöhe von 55 Metern und einem Kostenvolumen von rund 25 Millionen Franken aus.

Viele offene Fragen

Man stellt ihn sich gerne vor, diesen neuen Turm an diesem alten Ort. Schon bald aber kommen Einwände: Würde die Bewilligung eines solchen Baus nicht einen Präzedenzfall herbeiführen, sodass bald auf jedem Gupf im Land ein qua «kultureller Bedeutung» neues Gebäude errichtet würde? Wer soll bewerten, wie es sich mit dieser Bedeutung verhält? Und was ist, wenn es Origen einmal nicht mehr gibt? Kulturpublizisten wie Mathias Balzer vom Magazin «Frida» fragen, wer das denn bezahlen soll, und wenn es die öffentliche Hand sollte: Wer darf hier auftreten?

 

Giovanni Netzer bei der Präsentation seiner Pläne. (Foto: Benjamin Hofer)

Giovanni Netzer hat immer wieder Visionen vorgestellt, die auf den ersten Blick ambitioniert, auf den zweiten fast tollkühn wirkten. Mehr als einmal hat der Schreibende daran gezweifelt, dass sie umsetzbar sind. Und mehr als einmal hat Netzer es dann doch irgendwie geschafft, seine Ideen Wirklichkeit werden zu lassen. Ob ihm auch diesmal ein Wunder gelingt? 

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