«Wir Murmeltiere sind Überlebenskünstler»

Schreien statt Pfeifen: Murmeltiere alarmie­ren sich über Geräu­sche, die für unsere Ohren wie Pfiffe tönen.

Gespräch mit einer Bergmaus
Kurz vor dem Winterschlaf gewährt ein Murmeltier aus den Bündner Bergen einen seltenen Einblick in sein Leben. Im Gespräch erzählt es von genetischer Vielfalt, Klimawandel und seiner weit verstreuten Verwandtschaft.
Text 
Julian Reich (und KI)
Bilder 
Graubünden Ferien/Petr Slavik
Guten Tag Frau Murmeltier, besten Dank für deine Zeit, so kurz vor dem Winter. Zuerst aber: Wie soll ich dich eigentlich ansprechen?
 
Oh, ein Interview! Das freut mich aber. Weisst du, wir Murmeltiere sind sehr soziale Tiere. Wenn wir uns begegnen, begrüssen wir uns, indem wir aufeinander zugehen und uns mit den Nasen berühren, nachdem wir uns gegenseitig beschnuppert haben. Zu meinem Namen: Mein wissenschaftlicher Name ist Marmota marmota, benannt von einem gewissen Herrn Linnaeus im Jahr 1758. Wir gehören zur Familie der Hörnchen – Sciuridae, wenn du es genau wissen willst. Genauer gesagt sind wir Erdhörnchen, also Xerinae, und gehören zum Tribus der echten Erdhörnchen, den Marmotini. Die Menschen haben ja viele Namen für uns: In der Schweiz nennt man uns auch «Mungg», und in Süddeutschland und Österreich «Mankei» oder «Murmel». Du kannst mich einfach Murmi nennen. Manchmal werde ich auch Bergmaus genannt, aber das finde ich etwas despektierlich, auch wenn wir tatsächlich entfernt mit Ratten verwandt sind – nur sind wir natürlich viel grösser!
 
Also Murmi. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs ist es Herbst. Wie laufen die Wintervorbereitungen?
 
Ach ja, es ist eine anstrengende Zeit für mich. Im Herbst haben wir Murmeltiere alle Pfoten voll zu tun! Das Nahrungsangebot wird jetzt immer knapper, weil die oberirdischen Pflanzenteile absterben. Manchmal liegt sogar schon Schnee. Weisst du, ich werde auch immer träger. Verbringe viele Stunden vor unserem Winterbau und mache nur noch kurze Ausflüge nach draussen. Aber das ist ganz normal – mein Körper bereitet sich auf den Winterschlaf vor. Eine wichtige Aufgabe ist es jetzt, unseren Winterbau mit Heu zu polstern. Der Bau muss gut isoliert sein, denn wir verbringen dort ganze sechs Monate des Gebirgswinters! Und ja, ich bin schon ziemlich dick geworden über den Sommer. Auch meine Jungen, die haben inzwischen fast das Fünfzigfache ihres Geburtsgewichts erreicht. Das muss so sein, denn der Fettvorrat ist überlebenswichtig für den Winterschlaf. Aber jetzt entschuldige mich bitte, ich muss noch etwas Heu sammeln, bevor es zu spät wird!
 
Einen Moment, ich habe nur ein paar Fragen.  Das Murmeltier gehört zu den bekanntesten und beliebtesten Tieren Graubündens – dabei wissen wir doch so wenig über euch. Wie muss ich mir das Leben im Murmeltierbau eigentlich vorstellen?
 
Oh, da kann ich dir viel erzählen! Wir leben nicht alleine, sondern in Gruppen von etwa drei bis fünfzehn Tieren zusammen. Unsere Baue sind richtige Kunstwerke! Alle in der Familie – ausser den ganz Kleinen – helfen beim Graben und Unterhalten unseres Baus mit. Wir arbeiten dabei sehr effizient: Mit unseren Vorderbeinen und Zähnen lockern wir die Erde und scharren sie dann mit den Hinterbeinen nach draussen. Siehst du diese Hügel? Die entstehen durch unsere Grabarbeiten. Da können schon mal mehrere Kubikmeter Erde zusammenkommen! In Hanglagen können unsere Baue übrigens bis zu sieben Meter tief unter der Erde liegen. Wir haben da drinnen verschiedene «Räume»: Nestkammern zum Schlafen und separate Höhlen, die wir als – nun ja, wie soll ich es höflich ausdrücken – als Toiletten benutzen. Die haben wir das ganze Jahr über. Und natürlich polstern wir alles schön mit trockenem Gras aus, damit es gemütlich ist. Übrigens haben wir ein ziemlich grosses «Grundstück» – etwa zwei bis drei Hektaren pro Gruppe. Und wir sind sehr territorial – man verlässt sein Wohngebiet nur selten.
 
Aber gibt es Murmeltiere auch anderswo auf der Welt?
 
In Deutschland und Österreich leben einige meiner Cousins und Cousinen auch in tieferen Lagen, unter 1000 Metern über Meer. Bei uns in der Schweiz ist das eher die Ausnahme. Oh, und im Tessin gibt es auch einige von uns! Da leben Kolonien auf etwa 1100 Metern über Meer. Aber das ist ein Familiengeheimnis: Diese Kolonien wurden dort von Menschen angesiedelt.
 
Wie steht es mit der Verwandtschaft in Übersee?
 
Tatsächlich habe ich Verwandte in Nordamerika! Das Waldmurmeltier lebt dort und ist etwas ganz Besonderes in unserer Familie. Es ist nämlich das einzige Murmeltier, das auch in lockeren Wäldern zu Hause ist, während wir anderen ja hauptsächlich in baumlosen Grasländern leben. 
 
 
 
 
 

Aufmerksame Genossen: Ein Murmeltier schaut sich nach Gefahr um.

Was mich interessiert: Ihr pfeift ja, wenn Gefahr in Verzug ist – wie geht das vor sich?

Oh ja, das ist eines unserer wichtigsten Überlebensmerkmale! Aber lass mich gleich etwas klarstellen – wir «pfeifen» eigentlich gar nicht. Was du als Pfiff hörst, ist in Wirklichkeit ein Schrei, den wir mit unserem Kehlkopf erzeugen. Wir haben sogar verschiedene Warnsignale: Wenn sich eine Gefahr am Boden nähert, geben wir eine ganze Serie von Warnschreien von uns. Das ist der Ruf, den die meisten Bergwanderer kennen. Aber pass auf – wenn ich nur einen einzigen, langgezogenen Schrei ausstosse, bedeutet das etwas ganz anderes: Dann ist ein Adler in der Luft!  Wir profitieren auch von den Warnrufen unserer Nachbarn. Wenn eine Murmeltier-Familie in der Nähe Alarm schlägt, nehmen wir das sehr ernst. Übrigens gibt es da noch ein weit verbreitetes Missverständnis: Viele denken, wir hätten spezielle «Wächter». Das stimmt nicht! Bei uns warnt einfach immer dasjenige Tier, das als erstes eine Gefahr entdeckt. Und das funktioniert sehr gut – nur etwa fünf Prozent unserer erwachsenen Tiere fallen Fressfeinden zum Opfer.

Ihr lebt schon seit der Eiszeit in Europa. Das war sicher nicht ganz einfach damals.

Wir haben echt eine lange und spannende Familiengeschichte! Stell dir vor, unsere Vorfahren kamen ursprünglich aus Nordamerika. Sie sind vor etwa 2 Millionen Jahren über die Beringsche Landbrücke nach Eurasien gewandert. Während der Eiszeit hatten wir es eigentlich gar nicht so schlecht. Damals lebten wir nicht nur in den Bergen, sondern überall im europäischen Tiefland – von den Pyrenäen bis in die Ukraine! Aber dann wurde es kompliziert. Als die Eiszeit zu Ende ging und es wärmer wurde, breiteten sich überall Wälder aus. Und weisst du, wir können uns in Wäldern nicht gut behaupten. Deshalb mussten wir uns neue Lebensräume suchen – entweder in den waldfreien Steppengebieten Osteuropas und Asiens oder hier oben in der Gebirgssteppe der Alpen. Das war allerdings nicht ohne Folgen. Bei dieser «Umzugsaktion» in die Hochalpen haben wir durch einen sogenannten Flaschenhalseffekt den Grossteil unserer genetischen Vielfalt verloren. Wir Alpenmurmeltiere gehören heute zu den Tieren mit der geringsten genetischen Vielfalt überhaupt …

Jetzt ist es so, dass sich das Klima wieder ändert und es wärmer wird. Wie geht ihr damit um? Wie blickst du in die Zukunft?

Puh, das ist tatsächlich ein heikles Thema für uns Murmeltiere. Wir sind eigentlich richtige Kälte-Spezialisten. An warmen Sommertagen müssen wir uns schon jetzt in unsere kühlen Baue zurückziehen, weil wir schnell in Hitzestress geraten können. Während der heissesten Stunden bleiben wir lieber drinnen. Manchmal legen wir uns zwar in die Sonne, aber das machen wir eigentlich nur, um die lästigen Parasiten in unserem Fell loszuwerden. Dafür strecken wir uns dann ganz lang aus. Aber weisst du, wir haben schon einmal eine grosse Veränderung durchgemacht, als wir nach der Eiszeit in die Berge ziehen mussten, weil sich überall Wälder ausbreiteten. Also eines sage ich dir: Wir Murmeltiere sind Überlebenskünstler! Wir haben schon so viele Veränderungen überstanden. Trotzdem mache ich mir manchmal Sorgen um unsere Zukunft hier in den Alpen …

In Chur gibt es ein Museum, in dem Artgenossen von dir ausgestellt sind. Allerdings sind sie ausgestopft, sodass Menschen lernen können, wie ihr ausseht. Was macht das mit dir?

Ach, weisst du, es ist ein zwiespältiges Gefühl. Einerseits freut es mich zu hören, dass die Menschen uns Murmeltiere so interessant finden. Wir gehören ja tatsächlich zusammen mit dem Steinbock zu den beliebtesten alpinen Wildtieren. Andererseits erinnert mich das auch an frühere, dunklere Zeiten. Die Menschen haben uns über Jahrhunderte intensiv gejagt. Zum Glück ist der Jagddruck heute so gering wie schon lange nicht mehr! Was mich aber wirklich freut: Die Menschen interessieren sich heute mehr dafür, wie wir leben und was wir brauchen. Es gibt sogar Forschende, die unser Verhalten studieren! Ich verstehe, dass die Menschen uns kennenlernen wollen. Aber am liebsten haben wir es, wenn sie uns in unserem natürlichen Lebensraum beobachten – mit genügend Abstand natürlich!

Stören euch denn Wanderer sehr?

Nun ja, das ist tatsächlich ein heikles Thema. Wir Murmeltiere mögen es gar nicht, wenn zu viele Menschen in unserer Nähe sind. An der Universität Bern hat eine Forschungsgruppe unter Paul Ingold das genauer untersucht. Die Forscher haben he­rausgefunden, dass eine starke Präsenz von Wanderern unser ganzes Verhalten durcheinanderbringt: Wir müssen länger in unseren Bauen bleiben, können nicht mehr richtig fressen und nutzen unseren Lebensraum anders als gewohnt. Manchmal verstecken wir uns dann auch in unseren Bauen oder anderen Verstecken – ähnlich wie wenn wir uns vor Raubtieren in Sicherheit bringen müssen.

Du hast das Thema Jagd angesprochen. Wie hat sich die Jagd in den letzten Jahren entwickelt?

Früher hatten wir Murmeltiere es wirklich schwer. Stell dir vor, wir waren eine wichtige Nahrungsquelle für die Bergbevölkerung, die damals fast ausschliesslich von der kargen Landwirtschaft leben musste. Besonders schlimm war, dass die Menschen uns sogar im Winterschlaf nachstellten! Sie beobachteten im September, wo wir unsere Winterbaue bezogen, und gruben uns dann aus, bevor der Boden gefror. Aber heute ist die Situation zum Glück viel besser! Der Jagddruck auf uns Murmeltiere ist seit Jahrhunderten nie so niedrig gewesen wie jetzt. Früher wurde das Erlegen von uns Murmeltieren nicht einmal als richtige «Jagd» bezeichnet. In den historischen Quellen wurde es eher als eine Art Weidewirtschaft betrachtet. Manche Menschen haben uns sogar erst ausgesetzt und dann später «geerntet» – wie eine Art Viehhaltung! 

Der Steinbock ist ähnlich prominent wie das Murmeltier, er ziert sogar das Wappen Graubündens. Habt ihr eigentlich Kontakt miteinander?

Ja, tatsächlich gehören wir beide – der Steinbock und ich – zu den beliebtesten alpinen Wildtieren. Wir sind aber sehr unterschiedlich! Während der Steinbock als männlich, aggressiv, kühn und einzelgängerisch gilt, sind wir Murmeltiere eher als fleissig, spielfreudig und sozial bekannt. Die Bündner Menschen haben übrigens ein ganz unterschiedliches Verhältnis zu uns beiden: Zum Steinbock schauen sie oft bewundernd auf und identifizieren sich mit ihm. Bei uns Murmeltieren ist es etwas anders – die Menschen mögen uns entweder richtig gerne oder … nun ja … sehen uns eher als Nutztiere. Früher wurden wir beide übrigens manchmal sogar gefangen und gezähmt. Bei uns Murmeltieren kam das sogar noch häufiger vor als beim Steinbock! Aber direkten Kontakt haben wir eigentlich nicht miteinander. Der Steinbock lebt ja mehr in den felsigen Gebieten und macht diese waghalsigen Sprünge von Fels zu Fels, während wir uns eher in den Wiesen aufhalten. Jeder hat halt so seinen eigenen Lebensraum!

Zum Schluss nochmals zurück zu deinem Namen: Wieso heissen Murmeltiere eigentlich Murmeltiere?

Oh, da kann ich dir eine interessante sprachgeschichtliche Erklärung geben! Unser Name geht auf das althochdeutsche Wort «murmunto» zurück. Und das wiederum stammt vom lateinischen «Mu¯s montis» ab, was übersetzt «Bergmaus» bedeutet. Und aus dem «murmunto» wurde über die Jahre eben das Murmeltier. Denn murmeln tun wir ja nicht, wir pfeifen. Und jetzt muss ich leider los, meinen Bau für den Winter vorbereiten. Vielleicht sehen wir uns ja im Frühling wieder!

Weitere Infos
Die Evolution im Museum
Im Bündner Naturmuseum sind nicht nur spezielle Exemplare des Murmeltiers zu besichtigen – aktuell widmet sich das Museum auch der Evolution: «Evolution happens!» heisst die aktuelle Sonderausstellung. Da­rin wird erklärt, wie evolutionäre Anpassungsstrategien auch heute stattfinden und wie sie zu beobachten sind. Die vom Zoologischen Museums der Universität Zürich erstellte Ausstellung ist noch bis zum 19. Januar im Bündner Naturmuseum zu besichtigen. Neben Schlaglichtern auf evolutionäre Prozesse bei Mäusen, dem Mutterkorn-Pilz, Bakterien oder Pflanzen wirft die Ausstellung auch einen Blick auf die Geschichte des Alpensteinbocks. Dieser wurde in den Alpen beinahe ausgerottet. Die heute wieder grosse Population geht auf eine kleine Gruppe von Individuen zurück – auch der Genpool des Steinbocks erlebte also einen Flaschenhalseffekt, der zu einer heute tiefen Varianz im Genmaterial geführt hat. 
Autor & Literatur

Julian Reich ist Redaktionsleiter der «Terra Grischuna». Für diesen Artikel hat er sich eines KI-Werkzeugs bedient.
Literatur Jürg Paul Müller: Das Murmeltier. Verlag Bündner Monatsblatt, 1996. Florian Hitz: Steinbock und Murmeltier in Graubünden. Repräsentationen und Nutzungen vom Hochmittelalter bis in die Frühneuzeit, in: Histoire des Alpes 15 (2010).