Gedächtniskammern

Was der Untergrund über uns erzählt
Text 
Julian Reich

Die Erinnerung war dunkel bis zu jenem Moment, als wir durch die Tür gegangen waren und auf den Balkon traten. Ein düsterer, kreisrunder Raum, in dem es ohrenbetäubend rauschte. Der Blick in die Tiefe: weiss schäumendes Wasser, unaufhörlich sprudelnd. Ja, ich bin hier schon einmal gewesen, wurde mir bewusst, hier im Wasserschloss des Kraftwerks Ferrera, mitten im Berg. Es muss eine Schulreise gewesen sein, an die ich keine andere Erinnerung habe als dieses Schäumen und Tosen des Wassers in diesem seltsamen, riesigen Raum.

Die Erinnerung war im Untergrund meines Bewusstseins abgespeichert. Erst in diesem Moment kam sie zurück an die Oberfläche. Wir widmen uns in diesem Heft zwar nicht tiefenpsychologischen Betrachtungen, dennoch quert das Thema der Erinnerung den einen oder anderen Artikel, den Sie in diesem Heft lesen werden. So ist der Boden eine eigentliche Gedächtniskammer für Ereignisse, die vor unserer Zeit stattgefunden haben. Im Boden entdecken Archäologen Zeugnisse, die uns Aufschluss geben über das Leben früherer Zeiten – wie etwa über jene römischen Legionäre, die vor 2000 Jahren auf ihrem Feldzug unser Land durchquerten. Unter der Erde finden wir auch jene Orte, in denen wir Wein und andere Nahrung speichern, damit sie die Zeit länger überdauern – oder durch die Zeit erst zu dem werden, was sie schmackhaft macht, wie beim Wein.

Auch wenn wir heute nicht mehr in Höhlen leben, so haben sich doch manche Tiere ebendort heimisch gemacht. Das Murmeltier beispielsweise, mit dem ich für diese Ausgabe «sprechen» durfte. Das Interview war ein Experiment: Ich fütterte ein KI-Modell mit Informationen über Murmeltiere und liess es dann in die Rolle des Tieres schlüpfen. Herausgekommen ist ein zumindest für mich überraschend interessantes Gespräch. Fast so interessant wie jenes mit Gion Grischott, dem Kraftwerkleiter in Ferrera, mit dem ich das Wasserschloss betrat – und wo die Erinnerung an eine längst vergessene Schulreise zurück an die Oberfläche kam.

Ich wünsche Ihnen gute Lektüre, einen schönen Win­terbeginn und freue mich mit Ihnen aufs nächste Jahr.

Julian Reich
Redaktionsleiter

PS: Haben Sie vom 23. bis 27. Juni 2025 schon etwas vor? Auch im kommenden Jahr laden wir Sie zu einer Leserreise ein, diesmal in den Bregenzerwald. Alle Infos finden Sie ab Seite 54.