Im Altdorf von Thusis steht ein trauriges Haus. Aus der runzligen Fassade blicken dunkle Fenster, das verwitterte Holztor ist nur leicht angelehnt. Hin und wieder huscht ein Mitarbeiter des nahen Restaurants hindurch, denn in einem der gewölbten Räume im Erdgeschoss lagert das Altglas. Ob der Kellner dabei manchmal zum Türbogen hochschaut? Er sähe ein bröckelndes Wappen: Fünf Rosen und drei Lilien, ein Arm mit erhobenem Schwert, auf beiden Seiten die Worte «Deo Duce Comite Fortuna», «Mit Gott als Führer und Glück als Begleiter», ein Wahlspruch, wie er nur einem echten Rittergeschlecht ansteht. Und genau ein solches residierte einst hier im Haus Krone.
Das Haus Krone in Thusis.
Die Familie Rosenroll taucht plötzlich in den Urkunden von Thusis auf. Seit etwa 1500 war sie im Marktflecken Thusis ansässig, der damals und bis ins 19. Jahrhundert hinein einer der wichtigsten Orte des Freistaats respektive des Kantons Graubündens war. Gelegen an der Weggabelung zu den Pässen Septimer und Splügen, war Thusis Knotenpunkt und Handelszentrum zugleich.
Mit dem Handel machten die Rosenroll denn auch ihr Geld. Schon immer aber waren sie auch eine Familie von Kriegern und Söldnern. Wer nicht als Podestat im Veltlin in Amt und Würde war, stritt für holländische und französische Könige auf den Schlachtfeldern Europas. Und so verwebt sich in der Familiengeschichte dieser Rosenroll ein Stück weit lokale mit europäischer, ja globaler Geschichte.
Da war etwa Christoph Rosenroll (1601–1665). Durch seine Heirat mit Perpetua Ruinelli gelangten die Rosenrolls nicht nur zu viel Geld, sondern auch in den Besitz des Schlosses Baldenstein in Sils i. D. Christoph war unter anderem Oberstleutnant in französischen Diensten, Gesandter zum Mailänder Kapitulat 1639 und ein enger Freund Jörg Jenatschs. Obwohl dieser einen Schwager Christophs bei einem Duell niederstreckte, hielt er ihm die Treue. Diese ging so weit, dass Rosenroll Jenatsch bei dessen berüchtigten Attentat auf Pompejus Planta auf Schloss Rietberg – man lese dazu etwa Conrad Ferdinand Meyers «Jürg Jenatsch» – begleitete. Nach der Ermordung Jenatschs einige Jahre später forderte Rosenroll lautstark eine Aufklärung des Verbrechens, doch die dem Aufwiegler Jenatsch feindlich gesinnte Oberschicht hatte daran nur wenig Interesse.
Schloss Baldenstein in Sils i.D. verdankt seine heutige Gestalt den Rosenrolls. (Foto: Olivia Aebli-Item)
Zu dieser Zeit standen in Thusis bereits mehrere weitere Rosenrollhäuser. Noch heute sind sie durch ihre Portale erkennbar, hinter denen sich stattliche gewölbte Gänge befinden, auch wenn keines dieser Häuser von den zahlreichen Thusner Dorfbränden verschont geblieben ist. Geradezu ein Denkmal setzte sich Sylvester Rosenroll (1646–1721), der um 1670 das sogenannte «Schlössli» erbaute, ein zumindest damals noch allein in einem Obstgarten stehendes stattliches Haus mit Turmanbau, der Selbstbewusstsein verströmt. Das mehrmals in Brand geratene Gebäude beherbergte einst einen Steckborner Ofen, der später verkauft und heute im polnischen Nationalmuseum in Warschau steht. Sylvester Rosenroll war nicht nur Commissari im Veltlin, sondern gründete auch ein Handelshaus und wurde so zum Spediteur und Bankier.
Das Schlössli in Thusis.
Ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht waren, wurden die Rosenroll in den Adelsstand erhoben und schrieben sich «von Rosenroll» – ob nun kraft eines Dekrets oder selbst angemasst, ist nicht geklärt. Der erste Adelige Rosenroll war Sylvesters Sohn Rudolf, geboren 1706. Rudolph folgte in die Fussstapfen seines Vaters als Spediteur und stand ausserdem in regem Kontakt zum Zürcher Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer, der sich von Rosenroll durch die Gegend führen liess. Rosenroll berichtete ihm etwa von jenem Ungeheuer, das im Bischolsee am Heinzenberg leben soll – eine bäuerliche Sage natürlich, was dem naturforschenden Nobelmann durchaus bewusst war.
Die Rosenrolls kamen weit herum, und einige von ihnen blieben in der Ferne. Während das Thusner Geschlecht langsam ausstarb – 1806 erlosch es endgültig –, gab es bereits de Rosenrolls in Danzig und Neapel. Einer von ihnen, Giuseppe Maria Rosaroll-Scorza (1775–1825) erklomm in der neapoletanischen Republik die militärische Karriereleiter, musste aber wegen revolutionärer Umtriebe fliehen und kehrte erst an der Seite Napoleons wieder zurück nach Italien. Er verfasste ein damals sehr populäres Handbuch über den Schwertkampf, schloss sich später griechischen Unabhängigkeitskämpfern an und starb als einfacher Soldat im Kampf im Peloponnes.
Vererbte Kampfeslust
Sein Sohn, Cesare Rosaroll (1809–1840), liess sein Leben ebenfalls auf dem Schlachtfeld, und sein Leben war nicht minder abenteuerlich. Weil Angehörige der französischen Truppen von der Kirche in Rom exkommuniziert waren, verweigerte man ihm zunächst die Taufe. Doch Vater Giuseppe liess sich das nicht bieten. Mit seinen Soldaten verschaffte er sich Zutritt zum Petersdom und zwang den Klerus, ihn zum Abendmahl zuzulassen. Damit war die Sache erledigt.
Sohn Cesare erbte viel von seinem Vater, seine Kampfeslust und die Ideale etwa, doch kein Geld. Dank den Beziehungen einer vermögenden Tante kam er dennoch in der sizilianischen Armee unter. Doch als er als Teil einer Verschwörung gegen König Ferdinando II. aufflog, erhielt er das Todesurteil: Er und sein Mitverschwörer sollten sich gegenseitig mit einer Pistole in die Brust schiessen. Rosenroll überlebte, trotz eines glatten Durchschusses. Er wurde nochmals zu Tode verurteilt, das Urteil jedoch in lebenslange Haft umgewandelt. 18 Jahre sass er hinter Gittern, bis er 1848 begnadigt wurde.
Cesare de Rosaroll schloss sich wieder den neapolitanischen Truppen an und bewies sein unvermindertes Können auf dem Schlachtfeld. An seine Geliebte schrieb er: «Es ist sinnlos, darüber nachzudenken, und wenn ich auf dem Schlachtfeld fallen und für eine heilige Sache kämpfen würde, wäre ich der glücklichste Mann der Welt.» Eine Kanonenkugel erfüllte ihm den Wunsch ein halbes Jahr später, am 27. Juni 1849.
Das gesunkene Kriegsschiff
Cesare de Rosaroll hatte sich einen Namen gemacht, der auch im 20. Jahrhundert nicht vergessen ging. So trägt nicht nur eine Strasse in Neapel seinen Namen, sondern die italienische Marine benannte im Ersten Weltkrieg gar ein Kriegsschiff nach ihm. Es überdauerte die Kampfhandlungen, doch als es nach Kriegsende von Kroatien aus in den Heimathafen zurückfahren sollte, traf es auf eine Mine – 100 Mann fanden den Tod. Das Wrack der «Cesare de Rosaroll» ist heute ein beliebtes Ziel für Taucher.
In den Ersten Weltkrieg führt auch die Geschichte eines weiteren Rosenroll: Anthony Sigwart de Rosenroll wurde 1857 in Castellamare bei Neapel geboren, sein Vater war – man staune nicht – Revolutionär an der Seite Garibaldis gewesen. Anthony Sigwart hielt sich aber nicht lange in Italien auf. Nachdem er ein paar Jahre für die australische und neuseeländische Regierung als Ingenieur tätig war, setzte er 1895 die Segel nach Übersee. Er landete in Wetaskiwin, Kanada. Bald bewies auch er seinen Fleiss, er baute eine Ranch auf, ein Holzunternehmen, Kohle-Minen und sogar eine Versicherung. Auch politisch engagierte er sich. In Wetaskiwin benannte man eine Strasse nach ihm, sogar eine kleine Siedlung erhielt seinen Namen (heute heisst sie Bittern Lake, aber immerhin heisst der Friedhof noch Rosenroll Cemetery), und auch eine Thusis Street soll es einmal gegeben haben.
In den Schützengräben von Flandern
Nun aber zum Ersten Weltkrieg. Anthonys Sohn Arthur Sylvester nämlich diente als Mitglied der kanadischen Truppen – man war ja Teil des Commonwealth – an der Westfront. Er verfasste einen berührenden Bericht über seine Erlebnisse in den Schützengraben von Ypres, wo er zusammen mit seinen Kameraden lag, einer nach dem anderen im Kugelhagel sterbend. Selber wurde er schwer am Arm verletzt, was ihm die Entlassung aus dem Dienst ermöglichte. Seiner Familie aber hatte er alle Ehre gemacht.
All das wüssten wir nicht, wenn Arthur Sylvesters Enkel, Michael de Rosenroll, mit seiner Frau Jane nicht auf seiner Hochzeitsreise 1974 in Thusis vorbeigeschaut hätte. Der ebenfalls in Regierungsdiensten stehende Rosenroll-Nachfahre berichtete von der kanadischen Familien-Linie und den von seinem Urgrossvater angestellten genealogischen Forschungen. Sicherlich besuchte Michael de Rosenroll auf seiner Reise auch das alte Haus Krone im Altdorf von Thusis, und wir hoffen, es bot einen schöneren Anblick als heute.
Der Beitrag über die Familie Rosenroll ist einer von 100 Texten, die jüngst im Band «Graubünden in 100 Geschichten» erschienen sind. Die 65 Autorinnen und Autoren teilen darin ihr Insiderwissen, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse und ihre Liebe zum Kanton, heisst es im Pressetext des Verlags. Sie schreiben über die Geschichte, den Tourismus, den Sport, die Natur, den Verkehr, die Bildung, die Kultur und den Lebensraum. Das Spektrum reicht von kleinen Anekdoten hin bis zu mehrseitigen Interviews und Artikeln mit grosszügiger Bebilderung. Graubünden zeigt sich nicht nur als Ferienkanton, sondern auch als attraktives Zuhause und als Standort für die Wirtschaft und das Gewerbe. Das Buch unterhält intelligent mit 100 Geschichten, kommt aber auch seiner Chronistenpflicht nach mit einem Nachschlagewerk über die Historie des Kantons und einer umfassenden Bibliografie. «Graubünden in 100 überraschenden Geschichten ist das neue Standardwerk über den grössten und vielfältigsten Kanton der Schweiz», schrieben die Initianten um Herausgeber Peter Röthlisberger.