Nun singet und seid froh

Sternsinger

«Das isch de Stärn vu Bethle­hem»: Kinder gehen als die Drei Könige von Haus zu Haus. (Foto: Marco Hartmann)

Weihnachtslieder im mehrsprachigen Graubünden
«Stille Nacht» auf Italienisch, «O du fröhliche» auf Romanisch? Die Mehrsprachigkeit Graubündens brachte im Lauf der Jahrhunderte einen ganz eigenen Umgang mit dem Weihnachtslied hervor.
Text 
Laura Decurtins

Wenn man heute durch Weihnachtsmärkte bummelt, in den Kaufhäusern nach Geschenken sucht oder zu Hause bei Radioklängen Guetzli bäckt, sind es oft die allseits bekannten Weihnachtshits wie «White Christmas», «Jingle Bells» oder «Stille Nacht» und «O du fröhliche», mit denen man ohne Unterlass beschallt und auf das Fest der Geburt Jesu eingestimmt wird. Weihnachtslieder sind heute zu internationalen Volksliedern geworden: Jeder kennt und singt sie, aber nur noch wenige wissen um ihren Ursprung und ihre Geschichte. Und dazu hat der weltweite Siegeszug der englischsprachigen Carols und der romantischen Weihnachtslieder aus Deutschland nicht unerheblich beigetragen.

Graubünden bildet dank seiner Mehrsprachigkeit aber eine kleine Ausnahme, singt doch gerade die romanischsprachige Bevölkerung nicht nur die
bekannten Weihnachtslieder in Übersetzung, sondern ebenso jahrhundertealte Lieder, deren Ursprung oft im Dunkeln liegt und die nirgendwo mehr auf diese Weise erklingen. Über viele Jahre und in vielen Mündern geformt, zählen diese Weihnachtslieder heute zu den Eigenheiten der romanischen Musik. Aber auch sie gehen mehr und mehr in Vergessenheit.

«In dulci jubilo». Von der Leise zum romantischen Weihnachtslied

Die Geschichte der Weihnachtslieder beginnt im frühen Mittelalter in der weihnächtlichen Mitternachtsmesse mit den lateinischen Hymnen, die von der Schola gesungen werden. Bald erklingen auch deutsch-lateinische Weihnachtslieder, sogenannte Leisen, die ihren Namen vom Ruf «Kyrie eleison» jeweils am Ende jeder Zeile erhalten, wie das bekannte «Maria durch ein Dornwald ging» und das gemischtsprachige «In dulci jubilo, nun singet und seid froh». Die Klöster pflegen daneben auch den Brauch des «Kindelwiegens», aus dem später die Krippenspiele mit den Hirten- und Krippenliedern wie «Joseph, lieber Jospeh mein» und «Kommet ihr Hirten» hervorgehen.

Für die Mitbeteiligung der Gemeinde an der Weihnachtsliturgie setzt sich dann insbesondere der Reformator Martin Luther ein. Er schreibt eine Reihe von Weihnachtschorälen, die sich rasch in den reformierten Städten Europas verbreiten, bald auch in der familiären Weihnachtsfeier gesungen werden und bis heute populär geblieben sind: Wer kennt und singt nicht noch immer dessen Choral «Vom Himmel hoch, da komm ich her»? Luther ist aber auch als «Kurrendesänger» während der Adventszeit unterwegs und singt mit anderen Knaben auf den Plätzen der Dörfer und Städte mehrstimmige Weihnachtslieder für eine milde Gabe.

Eine weitere Form des weihnächtlichen Singens von Kindern und Schülern auf Dorfplätzen ist der Brauch des Stern- oder Dreikönigssingens, das im 16. Jahrhundert aus dem Dreikönigsspiel entsteht und in den katholischen Gebieten Europas seither zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag gepflegt wird. Auch in der Schweiz gehen die Kinder – verkleidet als die Heiligen Drei Könige und Sternträger – noch heute von Tür zu Tür, singen Dreikönigslieder wie «Das isch de Schtärn vo Bethlehem» und segnen die Hauseingänge.

Sind diese genannten Weihnachtslieder lange Zeit an die Liturgie gebunden, entstehen im 18. Jahrhundert alsbald zahlreiche neue, meist pietistische Weihnachtslieder für die häusliche Andacht, und im 19. Jahrhundert blüht das Repertoire an romantischen Weihnachtsliedern für die bürgerliche Feier in der guten Stube geradezu auf. Zu den alt­bekannten Weihnachtsliedern, die für die musizierende Familie auch als Sololieder mit Klavierbegleitung herausgegeben werden, kommen neue, stimmungsvolle Lieder, die auch weniger religiöse Aspekte der Weihnachtszeit besingen: den leise rieselnden Schnee, den Tannenbaum mit seinen schönen Blättern oder die süss klingenden Glocken. Und 1818, in einem kleinen Dorf in Österreich, erklingt schliesslich das heute weltweit bekannteste Weihnachtslied, das «Stille Nacht, heilige Nacht». Ursprünglich für Gesang und Gitarre komponiert, wird das schlichte und eingängige Lied wenig später schon vor Fürsten vorgetragen und schliesslich dank König Friedrich Wilhelm IV von Preussen, der es besonders mag und der die Urheber Franz Xaver Gruber und Pfarrer Joseph Mohr sowie die Entstehungsgeschichte bekannt macht, in die Welt hinausgetragen und in viele Sprachen übersetzt.

«Stille Nacht» in Graubünden?

Als «Clara notg de Nadal» erreicht dieses be­sinnlichste aller Weihnachtslieder zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch Romanischbünden. Der Dichter Flurin Camathias (1891–1946) aus Laax übersetzt es neben weiteren deutschen Weihnachtsliedern für das Schulgesangbuch der Surselva «La merlotscha» (1905); im Engadin folgt ihm der S-chanfer Lehrer Andrea Vital (1855–1943) mit seiner Übersetzung «Quaida not, sencha not». In Bergamo schreibt bald darauf der dortige Pfarrer Angelo Meli (1901–1970) auch eine Fassung für die Italienischsprachigen mit dem Titel «Astro del ciel». Allerdings kann es das seit Ende des 18. Jahrhunderts beliebteste Weihnachtslied Italiens «Tu scendi dalle stelle» nicht verdrängen, und in den italienischsprachigen Tälern der Schweiz hält man ebenso am beliebten «Dormi, dormi, bel bambin» fest. Dieses weihnächtliche Wiegenlied ist mit dem romanischen «Dorma, dorma, o Bambign», dessen melodische und harmonische Wurzeln bis ins Mittelalter zurückreichen, eng verwandt.

Während die deutsch- und italienischsprachigen Bündner also die bekannten Weihnachtslieder aus dem gleichsprachigen Umland stets rasch übernehmen und singen konnten, mussten die Romanen ihre Lieder seit jeher (teils mühsam) zusammensuchen, übersetzen, neu komponieren und mithilfe von protestantischen und katholischen Kirchen­gesangbüchern, Schulbüchern und anderen Lie­derbüchern verbreiten. Auf diese Weise entstand freilich ein Liederschatz, dessen jahrhundertealte Tra­­­dition und musikalische Vielfalt seinesgleichen sucht.

 

Ausschnitt aus Gian Battista Frizzonis «Canzuns spirituaelas» aus dem Jahr 1765. (Foto: zVg)

«L’infaunt naschieu’ns ais». Dreistimmiges Weihnachten im Engadin

Das protestantische Engadin begann schon früh, lutherische Lieder und Psalmen aus Genf in romanischer Übersetzung zu singen und entwickelte daraus eine langjährige Tradition mehrstimmigen Kirchengesangs. Im 18. Jahrhundert erreichte die schweizerische pietistische Singbewegung mit dem dreistimmigen Figuralgesang der Zürcher Pfarrer und Komponisten Johannes Schmidlin und Caspar Bachofen auch Graubünden. Deren Lieder übersetzte und publizierte der Pfarrer Gian Battista Frizzoni aus Celerina/Schlarigna in seinem beinahe 700-seitigen Gesangbuch «Canzuns spirituelas» (1765). Neben dem offiziellen Psalter wurden sie bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zu Hause sowie vor und nach dem Gottesdienst gesungen. Besonders Frizzonis Heimatgemeinde hielt lange Zeit an den bald als altmodisch geltenden, dreistimmigen Liedern für die Advents- und Weihnachtszeit und für das Dreikönigssingen fest. So wurden sie zu eigentlichen «Volksliedern», und das Gesangbuch blieb als «Il cudesch da Schlarigna» bekannt. Noch heute stimmen die Kinder und Schüler beim «Singen unter den Fenstern» in der Weihnachtszeit neben den bekannten Liedern wie «O bainvgnü Nadal» (O, du fröhliche) oder «Ils trais sabis» (Die drei Weisen) auch Frizzonis Lieder an, darunter das dreistimmige «L’infaunt naschieu’ns ais» (Uns ist ein Kind geboren). Von der langjährigen Belieb­t­heit der Schmidlin/Bach­of’schen Weihnachtslie­der zeugt aber auch das Liederheft «Alte Thusner Weihnachtslieder» von 1884, woraus die Schüler und die Sänger des Männerchors viele Jahre im Dezember und an Silvester auf den öffentlichen Plätzen von Thusis sangen.

«Glisch nuviala». Weihnächtliche Melodien aus der Consolaziun

Katholischbünden hielt währenddessen am (lateinischen) einstimmigen Choralgesang fest und empfing musikalische Anregung auch von reisenden Mönchen aus den benachbarten Klöstern. Zentrum der geistlichen Musik war das Kloster Disentis, eines der ältesten Benediktinerabteien nördlich der Alpen und bedeutender Wallfahrtsort. Von hier aus verbreiteten sich die Choräle und auch neue, strophenreiche Lieder auf Romanisch in den einzelnen Kirchgemeinden und wurden im Gottesdienst im Wechselgesang der Männer und Frauen gesungen. 1690 erschienen einige dieser einstimmigen Lieder erstmals in einem Erbauungs-, Gebets- und Gesangbuch mit dem Namen «Consolaziun dell’olma devoziusa» (Trost der andächtigen Seele). Dank zahlreicher erweiterter Ausgaben wurde diese Consolaziun bald enorm populär und nur noch «il cudisch» (das Buch) genannt. Die elfte Ausgabe von 1945 enthielt schliesslich rund 2000 Melodien, die über die Jahrhunderte in den Gemeinden – im Gottesdienst, zu Hause oder auf dem Dorfplatz – singend ent­standen waren. Besonders an den kirchlichen Feiertagen wurden diese Lieder gerne angestimmt, so auch während der Adventszeit und an Weihnachten. «Zuhause hatte man vor dem Kirchgang, während die in Wasser gelegt Rose von Jericho aufging, gesungen Dad ina rosa nescha (so in Domat), auch andere Weihnachtslieder, so wohl vor allem Glisch nuviala, ein Lied, das dem für die Romanen unmöglichen Stille Nacht gewiss weder in Text noch Weise nachsteht», schreibt der Volksliedexperte Alfons Maissen.

Neben dem bekannten «Glisch nuviala» (Neues Licht), dessen musikalische Ursprünge im Mittelalter liegen und wovon insgesamt neun Varianten bekannt sind, enthält die Consolaziun noch rund 30 weitere Advents- und Weihnachtslieder in vielen Varianten und Strophen, darunter auch «Da mesa notg fideivlamein» (Um Mitternacht) oder «In Fegl naschiu a Betlehem» (Ein Sohn geboren in Bethlehem), dieses gar in 15 Varianten. Dank der zahlreichen Bearbeitungen für Chor, Instrumente oder Gemeinde und Orgel, die der Komponist Gion Antoni Derungs (1935–2012) aus Vella (Lumnezia) schuf, werden diese Melodien noch heute im Gottesdienst, beim Dreikönigssingen und an Konzerten neben den internationalen Weihnachts­hits gesungen und gespielt. Derungs wollte diesen «reichen Liederschatz» für Weihnachten aber ebenso hörbar machen und produzierte zusammen mit Pfarrer Gieri Cadruvi die Schallplatte «Nadal. Weihnachten bei den Rätoromanen» (1971). Die hier präsentierten Weihnachts-, Silvester- und Epiphanielieder aus der Consolaziun und aus Frizzonis Gesangbuch, ergänzt um neukomponierte «Metamorphosen» über Consolaziun-Melodien, geben ein schönes Bild der erwähnten Eigenheit romanischer Weihnachtsmusik.

 

Weitere Infos

Ausgewählte Literatur

Gregor Eisenring: Vom Thusner Weihnachtssingen, in: Bündnerisches Monatsblatt, Heft 8, 1933, S. 243–247.
Franz Xaver Erni/Heinz Alexander Erni: Stille Nacht, heilige Nacht. Die schönsten Weihnachtslieder, Freiburg/Basel/Wien 2002.
Alfons Maissen/Andrea Schorta/Werner Wehrli (Hg): Die Lieder der Consolaziun dell’olma devoziusa, 2 Bd., Basel 1945 (Schriften der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde 26).
Alfons Maissen: Brauchtum, Handwerk und Kultur, Chur 1998, S. 261–266 (Dreikönigsbräuche in der Surselva).
Dorlis Portner: Weihnachten, Altjahrs- und Neujahrsbräuche im Bündnerland, in: Schweizer Lehrerinnen Zeitung, Nr. 11/12, 1979, S. 297–300.
Hans-Peter Schreich-Stuppan: Frizzoni und der Engadiner Kirchengesang, in: Holger Finze-Michaelsen (Hg.): Gian Battista Frizzoni (1727–1800). Ein Engadiner Pfarrer und Liederdichter im Zeitalter des Pietismus, Chur 1999, S. 149–233.
Hans-Peter Schreich-Stuppan: L’istorgia dal chant rumantsch da baselgia, in: Chalender Ladin, 1995–2005.
Ingeborg Weber-Kellermann: Das Weihnachtsfest. Eine Kultur- und Sozialgeschichte der Weihnachtszeit, Luzern/Frankfurt a. M. 1978.

 

Die Musikwissenschaftlerin Laura Decurtins forscht insbesondere zur Vokalmusik Romanischbündens. Im Frühjahr erscheint ihre Dissertation zum Thema. Sie lebt in St. Gallen.