Kürzlich im Auto auf dem Heinzenberg. Nach einer Kurve tut sich das ganze Panorama auf, von Feldis über den Scalottas, das Albulatal bis zur Muttner Höhe. Der Vater: «Schaut, wie schön, diese Aussicht!» Die Kinder: schweigen.
Mit dieser Kurve nahm auch das Nachdenken über das Thema der aktuellen «Terra Grischuna»-Ausgabe eine Wendung. Wie kommt es, dass man sich an weiten Ausblicken erfreut, ja darob staunt und sich irgendwie ergriffen fühlt? Und vor allem: Wieso staunt der Erwachsene, nicht aber das Kind, welches sonst leicht zu erstaunen ist? Ist dieses Staunen etwa nur antrainiert?
Bei der Suche nach Antworten kann man sich an die kulturhistorische Literatur wenden, doch explizit fündig wird man nicht. Eine Kulturgeschichte der Aussicht wurde bislang nicht geschrieben. Jedoch sollen ja die Engländer dafür verantwortlich sein, dass das Erklimmen von Bergspitzen zu einem Zweck für sich geworden ist. Und das irgendwann im 19. Jahrhundert. Doch ganz so trennscharf ist die Geschichte nicht, es ist nicht so, dass vor der Romantik alles schrecklich war, was später als erhaben galt, dass sich die bösen Alpen plötzlich in Kathedralen verwandelten – schon 1336 erklomm Francesco Petrarca den Mont Ventoux, bloss aus dem Grund, weil er es konnte.
Und wir kennen künstlerische Darstellungen von Landschaften bereits aus dem Mittelalter, die auch auf eine gewisse Ergötzung an der Natur hinweisen. Etwa in den Kapellen Sontga Gada in Disentis oder Sogn Gieri in Brigels. Dokumentarisch wurden die Darstellungen erst im 17. Jahrhundert, als Jan Hackaert Graubünden bereiste. Seine Zeichnungen waren jedoch weniger künstlerischer Ausdruck als Wirtschaftsspionage: Seine Auftraggeber waren holländische Kaufleute, die etwas über den Zustand der Handelsrouten erfahren wollten.
Dann, natürlich, kamen die Engländer, der Tourismus, die Standseilbahnen auf die Schatzalp und Muottas-Muragl, die grossen Panoramen. Und: die RhB. Diese wurde mit dem Ziel gebaut, «ein Verkehrsmittel zu schaffen, das den Genuss dieser grossartigen Natur mit Bequemlichkeit gestattet und deren erhabene Schönheiten in reicher Abwechslung am Auge vorbeiziehen lässt», wie in Thomas Barfuss’ lesenswertem Buch «Authentische Kulissen. Graubünden und die Inszenierung der Alpen» zu erfahren ist.
Das alles erklärt noch nicht, warum wir staunen. Ist es vielleicht evolutionsbiologisch erklärbar? Ein guter Blick gibt uns die Sicherheit, den Feind schon früh in der Landschaft auszumachen – ein nicht zu unterschätzender Vorteil beim Unterfangen, zu überleben. Ob dieses Gefühl noch heute in uns nachklingt, wenn wir Bergpanoramen betrachten? Oder ist es wieder anders, nämlich eines jener wenigen Merkmale, die uns vom Tier unterscheiden: das Vermögen, uns zweckfrei an etwas zu erfreuen, bloss weil es da ist? Das führt zum unbestreitbar schöneren Gedanken: Erst wenn wir staunen, sind wir Menschen.
Was passiert, wenn wir in die Ferne blicken?
Text
Julian Reich