Der Morteratsch mit der Berninagruppe gilt als «typisch bündnerisch». (Foto: bilder.GR)
Bleiben wir zunächst bei der Sprache: Kein Kanton hat eine solche Sprachenvielfalt wie Graubünden (vgl. dazu den separaten Text in diesem Heft), es sind drei Sprachen und mindestens zehn Dialekte. Darauf ist der Kanton stolz, wenngleich Rätoromanisch trotz vielfacher Bemühungen auf dem Rückzug ist und nun – angesichts des Lehrstuhls an der ETH, der in Gefahr ist – auch die Lehrerausbildung gefährdet scheint. Aber gerade diese Sprachvielfalt fasziniert viele Besucher des Kantons, wenngleich sie bisweilen Mühe haben, die Flurnamen in den verschiedenen Regionen oder die Sesselbahnstationen in den Skigebieten richtig auszusprechen – was bisweilen für Erheiterung sorgt.
Und dann ist da natürlich die Natur: Die Selbstdarstellung von «Graubünden Ferien» wirbt dafür auf ihrer Internetseite: «In Graubünden gibt es viel zu sehen und zu erleben: 1000 Gipfel, 615 Seen, 150 Täler.» Das mit den 150 Tälern ist übrigens eine Mär – wohl nie hat jemand das wirklich überprüft. Aber die Tourismusorganisation liegt nicht falsch. Viele Leute assoziieren mit Graubünden als «typisch» das Naturerlebnis:
Kurt Aeschbacher und Sergio Marchionne (unten) sind regelmässige Besucher Graubündens. (Fotos: SRF/Merly Knörle und Wikipedia)
Seit viele Jahren ist TV-Moderator Kurt Aeschbacher ein Besucher Graubündens, früher mit seiner Mutter in Sils, heute eher in der Region Davos. Motiv dafür: «Für mich macht es allem voran die einzigartige Landschaft aus, die mich immer wieder ins Bündnerland zieht.» Ähnliches ist auch von Sergio Marchionne, Chief Executive Officer des Fiat-Chrysler- Konzerns, im Gespräch zu erfahren: Er schätzt die Wanderungen durch die Wälder und das Verweilen an Seen – selbstverständlich in Freizeitkleidung, was sein Markenzeichen auch auf internationalen Konferenzen und Meetings ist. Der Zürcher Rechtsanwalt Peter Nobel ist ebenfalls gerne Gast in Graubünden – im Sommer auf dem Motorrad, im Winter auf den Ski. Und als Liebhaber von gutem Essen schätzt er das kulinarische Angebot in den verschiedensten regionalen Variationen.
Bisweilen lauten die Kommentare (vor allem der sogenannten Unterländer) auch, die Bündnerinnen und Bündner seien verschlossen, stur, sarkastisch und cholerisch. Dem widerspricht selbstverständlich die «Innensicht» des Hotelleriepaars Züllig: «Die Bündnerinnen und Bündner sind offene Menschen, die gerne auf Menschen zugehen.» Etwas differenzierter sieht das Regierungsrat Mario Cavigelli: «Die Bündnerinnen und Bündner sind zäh, ausdauernd und bisweilen etwas stur. Wir sind stark heimatverbunden, gleichzeitig aber auch offen gegenüber dem Fremden und Neuen.» Einen Vorbehalt hat da TV-Moderator Kurt Aeschbacher, er meint, «dass in den touristischen Regionen oftmals weniger die Liebe zur Heimat als die zum Geld die wichtigen Entscheide bestimmt».
In der Tat ist das Bild des sturen Bündners nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Der Architekt Rudolf Olgiati beispielsweise war ein sehr weltoffener Mensch, der für die Architekturgeschichte des Kantons grosse Verdienste hat, indem er das «neue Bauen» von Le Corbusier mit der traditionellen Architektur der Region zusammengeführt hat. Seine Beharrlichkeit im Entwerfen – manche nannten das Sturheit – hat aber auch dazu geführt, dass so manches Projekt gescheitert ist oder er sich mit der Bauherrschaft völlig zerstritten hat. Und es gab so manchen Handwerksbetrieb, der mit Olgiati aus Prinzip nicht zusammenarbeiten wollte.
Früher galt auch das Personal der touristischen Infrastrukturen – zum Beispiel bei den Bergbahnen – als wortkarg, verschlossen und unfreundlich. Dank einer Charmeoffensive mit Kursen für die Angestellten bei allen grossen Bergbahnunternehmen hat sich dies zwischenzeitlich massiv verbessert – von Ausnahmen abgesehen, sowohl im positiven als auch im negativen Sinn. Es ist ja nicht so, dass das typisch bündnerisch ist – auch den Wallisern und den Berner Oberländern wird bisweilen eine solche Haltung zugeschrieben. Ob das mit der Enge der Täler zu tun hat?
Typisch Graubünden – intakte Natur und ursprüngliche Dörfer wie Soglio. (Foto: bilder.GR)
Natürlich sind die Bündner stolz – auf ihre Geschichte wie auch dafür, wofür sie nichts können – die Natur eben. Auch hier ein erster Blick in die Selbstdarstellung von «Graubünden Ferien»: «Auf freundliche und sympathische Alpenbewohner treffen Sie in den kleinen und feinen Bergdörfern, auf den aussichtsreichen Wanderwegen oder auf einer Panoramafahrt mit der Rhätischen Bahn. Und wenn Ihnen der Koch in der urchigen Berghütte feine Pizzoccheri oder Maluns serviert, ist der Urlaub perfekt.» Der oberste Chef der Schweizer Hoteliers, Andreas Züllig, antwortet gemeinsam mit seiner Frau Claudia ähnlich: «Wir tun dies in Stichworten (wenn auch klischeehaft ...): Bündner Nusstorte, Schellen-Ursli, Steinbock, Natur pur, Giacometti, Segantini und Co.»
Natürlich stellt auch die Regierung den Kanton von seiner positiven Seite dar, Regierungsrat Mario Cavigelli meint auf Anfrage zu «typisch Graubünden»: «Die vielgestaltige Natur und die weitläufigen, alpinen Berglandschaften zeichnen Graubünden aus. Diese geografischen Besonderheiten prägen das Leben im Kanton. Sie bringen uns eine kulturelle und sprachliche Vielfalt, stellen uns aber auch vor grosse Herausforderungen, beispielsweise bei der Erschliessung der Talschaften oder der Nutzung und Bewirtschaftung der Lebensräume. Die Lösungen, die wir gefunden haben und stets neu finden müssen, tragen wiederum zur Einzigartigkeit Graubündens bei, denken wir nur an unsere spektakulären Verkehrswege oder die berühmte Hochgebirgsjagd.»
Typisch Graubünden: wilde Natur am Albulapass. (Foto: bilder.GR)
Auf alle Fälle – und das ist auch nicht nur typisch für Graubünden – haben viele Randregionen mit Strukturproblemen zu kämpfen: Die Jungen wandern ab, die Täler entvölkern sich. In Frankreich haben die Verantwortlichen in den Sechzigerjahren der Entwicklung freien Lauf gelassen, weshalb die touristischen Skimoloche im Stil von Courchevel oder Les Trois Vallées entstanden sind und sich ganze Täler entleert haben. Da folgt das Nachdenken in Graubünden über die Förderung von Berg- und Randregionen einem anderen Weg – ob er erfolgreich sein wird und eines Tages als «typisch Graubünden» genannt werden wird, bleibt offen. Das Wirtschaftsförderungsgesetz und dessen Umsetzung wird dies weisen. Konzeptionell hat Graubünden im Umgang mit seinen potenzialarmen Räumen vor neun Jahren eine auch – international respektierte – Pionierrolle übernommen, nur ist zwischenzeitlich der Elan weg!
Der Journalist Olivier Berger hat das in einem Kommentar in der «Schweiz am Sonntag» vor Jahresfrist unter dem Titel «Der Stillstand als Konstante» wie folgt kommentiert: «Die Talschaften scheinen aber ob all der Herausforderungen in eine Art Schockstarre gefallen zu sein. Konzepte, wie die betroffenen Regionen ihr Potenzial für die Zukunft sehen und wie sie diese nutzen wollen, sind bisher weitgehend ausgeblieben. Lieber flucht man am heimischen Tisch über ‹die in Chur unten›, als sich mit unangenehmen Fragen zur eigenen Existenz zu beschäftigen. Das Problem ist, dass dadurch kein einziges Problem gelöst wird – und in einer schnelllebigen Welt wird die Zeit knapp.»
Es ist hier nicht der Ort, die Meinungen von Zeitzeugen, über die Frankenstärke oder die Tourismusentwicklung zu debattieren, auch nicht über die wirtschaftliche Entwicklung in den Berg- und Randregionen. Das ist Aufgabe der Politik und des Amtes für Wirtschaft und Tourismus. Der Leiter der Abteilung Tourismusentwicklung bringt es in einem Artikel der «Schweiz am Sonntag» auf den Punkt: «Es braucht in den Regionen Leaderfiguren, die etwas anstossen, aber da spielen auf der Suche nach Lösungen schon einmal private Animositäten eine Rolle.» Und das regierungsrätliche Wort dazu von Mario Cavigelli: «Manchmal wünschte ich mir, dass wir Bündnerinnen und Bündner stärker noch den Blick fürs Ganze behalten und bei den Entscheidungen, welche die Zukunft unseres Kantons betreffen, wieder etwas mutiger werden.»
Mario Cavigelli zeichnet ebenfalls ein sehr positives Bild seines Kantons. (Foto: zVg)
Eine typische Aussensicht auf den Kanton haben nicht die Unternehmer vor Ort, sondern die fahrenden Unternehmer. Dazu gehören die Zirkusunternehmen, die in der Schweiz unterwegs sind, der Circus Knie und das Familienunternehmen Nock. Der Nationalzirkus Knie gastiert einmal im Frühjahr im Kantonsgebiet, nämlich in Chur, der Familienzirkus im Sommer an zehn verschiedenen Standorten. Fredy Knie jun. meint zu seinem Gastspiel: «Chur ist auf unserem Tourneeplan die einzige Stadt in Graubünden, aber wichtig. Wir sind sehr gerne dort. Mir persönlich gefällt der Dialekt sehr gut und es freut mich immer, wenn romanischsprechende Besucher kommen. Es ist schön, dass es diese Sprache noch gibt.» Seit 156 Jahren fährt der Zirkus Nock nach Graubünden, die ehemalige Direktorin Verena Nock meint dazu: «Graubünden ist für uns die zweite Zirkusheimat – wir wurden stets herzlich empfangen und die Gemeinden haben uns in der Planung der Tourneen stets offen unterstützt. Graubünden wird weiterhin auf unserem Spielplan stehen.»
Seine Tätigkeit nach Basel verlegt hat Dino Simonett, der umtriebige Verleger in der ganzen Welt: Zuvor war er in Paris, Zürich, Chur und Basel aktiv. Was er zum Typischen von Graubünden und seinen Attraktionen und Problemen meint, gibt er
in seiner typischen, teils flapsigen, teils äusserst provokanten Art wieder: «Freundlichkeit, Fleiss, Inbrunst, Misstrauen, Gemächlichkeit, Diminuitivitis (‹Schöös Tägli!›), Konservatismus, Rückständigkeit, Selbstgefälligkeit.» Über Folgendes ärgert er sich: «Alle Insignien der Provinz. Gemütliches Beisammensein bei gemütlichem Denken, je höher die Berge, desto enger der Sinn. Braungraue Kühe ohne Hörner, viel zu viele Sportveranstaltungen. Allgegenwärtige Alphornmusik in der Churer Altstadt, Renzo-Blumenthal-Schlutten und Ethno-Kultur-Veranstaltitis, Ausverkauf von allem. Das neue Kunstmuseum in Chur – eine glatte Katastrophe und niemand merkt es, geschweige denn sagt etwas.»
Querdenker, Liebhaber und Kritiker von Graubünden: Dino Simonett. (Foto: Martina Baer)