Giovanni Giacomettis Weg zur künstlerischen Freiheit

Vista su Maloggia con l’albergo Palace, 1899. (Foto: Hotel Schweizerhaus)

Giovanni Giacometti im Dienste des Tourismus
Mit einer repräsentativen Schau zeigt das Bündner 
Kunstmuseum wichtige Wendepunkte im Werk Giovanni Giacomettis. Im Mittelpunkt stehen die drei grossen 
Panoramen des Altmeisters.
Text 
Julian Reich

«Was erlaubt sich dieser Giacometti nur?», fragte sich vermutlich Anna von Planta am 3. Januar 1898. Sitzt der doch einfach in Herzogenbuchsee und will von dort aus die Engadiner Berge malen, dabei hatte man sich doch extra an ihn, den «in Bünden lebenden Maler» gewandt für die Verschönerung des neuen Chalets in St. Moritz. Also griff sie zur Feder und schrieb dem Künstler einen forschen Brief: «Die Beleuchtung ist ­eine Andre, die Luft, die Berge die Thiere fehlen & Sie können doch wohl nicht Alles aus der Erinnerung malen?»

 

Freie künstlerische Kompostition: Giovanni Giacomettis «Panorama von Muottas Muragl».(Foto: Bündner Kunstmuseum Chur, Depositum aus Privatbesitz)

Was sich Giovanni Giacometti, der zu dieser Zeit bei seinem Freund Cuno Amiet weilte, beim Lesen des Briefs dachte, wissen wir ebenso wenig. Zumindest nahm er die eine oder andere Anregung seiner Auftraggeberin auf, forderte Fotos an von seinem Mentor und Vorbild Giovanni Segantini, verkleinerte die Schafköpfe (tauschte sie aber nicht durch Ziegen aus), reduzierte den Blütenflor und milderte die Kantigkeit der Berggipfel gegenüber seinen Skizzen. Ein getreues Abbild des Alpenpanoramas von Muottas Muragl aus ­gesehen, sollte es aber nicht werden, dieses vierteilige Werk, das aktuell im Bündner Kunstmuseum zu sehen ist. Vielmehr sollte künstlerische Reflexion die Landschaft kompositorisch neu interpretieren.

Das «Panorama von Muottas Muragl», 1897/1898 entstanden, war das Hauptwerk der von Anna von Planta bei Giacometti bestellten Bilder für die Stube der Chesa sur l’En, des Feriensitzes der vermögenden Familie. Dort hing es (und acht weitere Werke) jedoch lediglich bis spätestens 1914, als Anna von Planta das Haus verkaufte. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Familie übrigens bereits ihre Churer Villa an der Bahnhofstrasse an die RhB veräussert – jenes Gebäude, in dem heute das Bündner Kunstmuseum untergebracht ist.

 

Panorama von Flims. (Foto: Fondation Saner Studen)

Frucht eines Scheiterns

Frucht eines Scheiterns

Das Engadiner Panorama ist ein Nachklang von Giovanni Segantinis für ­die Pariser Weltausstellung geplanten grossem Panorama, das wegen horrender Kosten nie zur Ausführung gelangte. Und doch wurde damit etwas angestossen, das Giacometti nach Segantinis Tod 1899 beschäftigen sollte. Nach dem Panorama von Muottas Muragl (1898) hat Giovanni Giacometti eine Ansicht der Oberengadiner Landschaft mit dem mächtigen Hotel «Maloja Palace» gemalt (1899) und als Abschluss dieser ­repräsentativen Auftragsbilder das bekannte Triptychon für das Hotel Wald-haus in Flims (1904). Die Aufträge brachten dem vielfachen Familienvater willkommene Einnahmen, die es ihm zudem ermöglichten, sich zusehends von seinem Vorbild Segan­tini zu lösen. Abzulesen ist dies nicht zuletzt an den drei Panoramen: Kommt das erste noch relativ naturgetreu daher, so lösen sich im Flimser Panorama – zumindest in den Seitenbildern – die Formen zunehmend zugunsten abstrakter Farbflächen auf.
In Chur sind diese drei Werke notabene erstmals gemeinsam in einer Schau vertreten. Sie zeigen nicht nur Giacomettis künstlerischen Werdegang, sondern stellen zugleich kulturhistorisch wichtige Zeugnisse dar, zumal zwei der drei Werke letztlich im Sinne der Tourismuswerbung entstanden. Nur eines jedoch, jenes von Maloja, ist nach wie vor im Besitz eines Hotels. Jenes von Flims wurde vom Hotel Waldhaus an die Fondation Saner verkauft, das von Muottas Muragl ist heute, nach einem gescheiterten Verkaufsversuch, als Depositum zurück im Bündner Kunstmuseum.

 

Weitere Infos

Online kunstmuseum.gr.ch

Ausstellung bis 29. August 2021

Literatur Giovanni Giacometti. Die grossen Panoramen, herausgegeben von Stephan Kunz. Mit Beiträgen von Stephan Kunz, Paul Müller und Cordula Seger. Verlag Scheidegger & Spiess, 2021.