Bergeller Frauenbilder

Eine unbekannte Schönheit. (Fotos: © Fondazione Garbald)

Andrea Garbalds «Album»
Text 
Julian Reich

Bergeller Frauenbilder

Andrea Garbalds «Album»

Es wäre leicht, sich zu verlieben in diese Fotografie: Wir sehen die Frau knapp im Halbprofil, eine ebenmässige, spitze Nase, daruner ein leicht geöffneter Mund, darüber das rechte Auge, das klar und ein wenig sehnend in die Ferne schaut. Volles Haar bedeckt den Kopf, ein dünnes Tuch nur die Schultern. Vermutlich sitzt sie, in der Unschärfe ahnt man eine Lehne, über die weisser Stoff gelegt ist. Alles ist weich, weiss und schön in diesem Bild, von dem wir nur wenig wissen, fast gar nichts eigentlich, aber macht das nicht die Vorstellung noch reicher?

Geschossen – was für ein Wort für ein solch sanftes Geschöpf! – hat es Andrea Garbald, der 1877 im Bergell geborene ­Fotograf, gestorben 1958 ebendort. Er war der Sohn des Zöllners Agostino und seiner Frau Johanna, die unter dem Pseudonym Silvia Andrea literarische Erfolge feierte. Ein Begriff ist die Familie auch deshalb, weil sie sich vom bekannten Architekten Gottfried Semper eine Villa in Castasegna bauen liess. Hier wohnte schliesslich auch ihr Sohn Andrea, hier starb er, einsam vermutlich, Gerüchte erzählen von vielen Katzen. Vierzig Jahre später erst fand man auf dem Dachboden seine Glasplatten­negative, man feierte sie unter anderem mit einer Ausstellung im Bündner Kunstmuseum und einer Publikation. Die Negative lagern seither in Chur, wo Stephan Kunz, Direktor des Bündner Kunstmuseums, sie durchforstete. Dabei fiel im auf, dass fast die Hälfte der 900 Bilder Frauen zeigen. Wer sie sind, weiss man in den ­wenigsten Fällen, ebenso wenig, weshalb Garbald sie aufnahm.

Nun hat Kunz die Bilder in ein Album gereiht und im Verlag Scheidegger & Spiess veröffentlicht. Wir sehen also Garbalds Frauen, ohne zu erfahren, wer sie sind. Wir blicken in Kinderaugen, sehen fröhliche, ernste, schüchterne und lebhafte, junge und reife Gesichter, und immer spürbar ist Garbalds sensibler Zugang zu seinen Sujets. Wie wohl erlangte er ihr Vertrauen, das zuweilen zu geradezu intimen Bildern führte? War er vielleicht doch nicht so verschroben, wie man ihn heute wahrnehmen möchte? Wir wissen es nicht. Wer sich dennoch ein wenig verlieben möchte, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt.

Andrea Garbald. Album. Andrea Garbalds Porträts von Frauen aus dem Bergell in seiner Zeit. Herausgegeben und mit einem Text von Stephan Kunz. Verlag Scheidegger & Spiess, 2021, 180 Seiten, CHF 35.–.