Yvonne Gienal
Manchmal muss man die Dinge zum Stehen bringen, um etwas Neues zu beginnen. Beim Joggen zum Beispiel. Der Rhythmus der Schritte, das Pochen des Herzens macht die Gedanken langsamer, bis sie stillstehen. «Das ist der Moment, in dem das Neue entstehen kann», sagt Yvonne Gienal. Das bisherige Werk der Ilanzer Künstlerin ist geprägt von Schnitten, die von aussen als hart betrachtet werden könnten. Und wenn sie ein Thema gefunden hat, dann widmet sie sich ihm mit radikaler Intensität. Sie interessiert sich für die alpine Kultur, die Traditionen und die verbindenden Elementen darin. Gienal beschäftigte sich schon mit Faltungen, ob jene der Alpen oder des Körpers; mit ihrer Sprache, dem Romanischen, oder mit dem fehlenden Schnee, der ihr beim Joggen im Dezember auffiel, natürlich.
«Man muss neugierig sein», sagt Yvonne Gienal, «sonst beginnst du, dich zu wiederholen.» Aufgewachsen in Disentis, wohnt sie heute in Ilanz, «aber auch wenn ich in diesem Tal wohne, so suche ich doch stets nach Inspiration von überallher», ob in der Natur, in Gesprächen, beim Lesen und beim Netflixen, ob in den Museen der Schweizer Städte oder im Ausland – «Inspiration findet sich überall, wenn man Augen und Ohren offen hat».
Der Blick geht nach aussen, in die Welt – aber auch mal ganz in die Nähe. So kann man Gienals jüngsten Werkzyklus beschreiben, der sie zu einer Ausstellung in der Cuort Ligia Grischa in Trun führte – ein Zwiegespräch mit Alois Carigiet (1902–1985). Justina Simeon-Cathomas, Präsidentin des Stiftungsrats, hatte Gienal angefragt, ob sie sich eine Ausstellung in der Cuort Ligia Grischa vorstellen könnte. Das war vor fast zwei Jahren. Für die Ilanzer Künstlerin war es klar, dass sie sich mit dem Haus und mit den permanenten Werken im Haus auseinandersetzen wollte. Sehr schnell entschied sie, dass sie sich mit Alois Carigiet einlassen wollte. Und Gienal begann, sich mit dem Werk des in Trun geborenen Malers und Illustrators intensiv zu beschäftigen.
Denn natürlich, wir alle kennen ihn und seine Kinderbücher, den «Schellen-Ursli» und «Flurina und das Wildvöglein», seine Dorfansichten und Bauernszenen, die Geissen und Vögel. Es mit einem neuen, offenen Blick betrachtend, erkannte sich Gienal ein wenig selber wieder in Carigiets Werk, auch sie ist Künstlerin und Illustratorin. «Nicht dass ich mich mit ihm messen möchte, es gibt aber bestimmte Motive und Themen, die mich gleich angesprochen haben.»
Carigiets Umgang mit Mustern beispielsweise, ob auf Teppichen oder Vorhängen, auf Kleidern oder Tüchern. Seine meist schrägen Perspektiven, in denen er sich sehr modern zeigt. Oder eben die lebendigen Farben, auch das etwas, das Gienal in ihrer eigenen Arbeit mit Vorliebe einsetzt. Ihren Stil bezeichnet sie als «pop – jung, frisch, modern, farbig, humorvoll, leicht, extrovertiert».
Und so kommt die 1976 geborene Künstlerin auch daher: fröhlich, einnehmend, herzlich, gewandet in farbenfrohe Kleider, das Haar hochgesteckt, die Augen frisch und neugierig. Modedesignerin wollte sie werden, als sie jung war, auch wenn sie Handarbeit nicht sonderlich mochte. Gezeichnet und gemalt hatte sie immer gern, wie viele andere Kreative auch, sagt sie. Der Vater ein talentierter Schreiner und Bildhauer, die Mutter eine fürsorgliche Hausfrau – ermunternde Kinderjahre, schildert sie. Das Studium führte Gienal nach Freiburg, wo sie sich zur Oberstufenlehrerin ausbilden liess. Sprachen, Geschichte, Kunstgeschichte und Kunstdidaktik waren ihre Fächer. Daneben blieb sie aber stets künstlerisch tätig. Dennoch: Für die Bewerbung an einer Kunsthochschule reichte das Selbstvertrauen nicht. «Das ist das Einzige, was ich ein wenig bereue.» Später holte sie die klassische Ausbildung etwa an der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst in Salzburg nach. Heute lebt sie als Künstlerin und Illustratorin mit ihrer Familie in Ilanz und ist Mitglied des Berufsverbands Visarte. In einem Teilpensum leitet sie zudem die Galerie Cularta in Laax, wo sie jährlich mehrere Ausstellungen organisiert. «Es macht mir viel Freude, wenn andere Künstler beim Publikum Erfolg haben. Und ich lerne immer wieder spannende Menschen kennen», sagt sie dazu.
Dennoch: Die eigene Arbeit ruht nicht. Man muss sich das Atelier von Yvonne Gienal als eine eigentümliche Welt vorstellen. Es liegt in einem alten, etwas baufälligen Haus. Wenn sie es betritt, begrüsst sie erst die Geister, die darin wohnen, wenn sie nach Hause geht, verabschiedet sie sich. Das Haus heisst nicht umsonst das «Tausend-Seelen-Haus». Gienal kann hier gleich eine ganze Etage nutzen. Angefangene Werke liegen auf Tischen und auf dem Boden, lehnen an den Wänden. Meist arbeitet sie gleich an mehreren Leinwänden parallel, zumeist mit Acryl, aber auch mit Pastellkreide, Bleistift, Spray, Ölsticks und Markern. Ein Bild hat oft mehrere Ebenen, und das wörtlich, werden sie doch in immer neuen Arbeitsschritten übermalt. Auch so weit, dass der Betrachter das Darunterliegende höchstens noch erahnen kann.
Gienal arbeitet intuitiv und spontan, die Ideen entwickeln sich fortlaufend. «Aber so richtig zu Ende kommen meine Werke erst, wenn ich sie zusammensetze», sagt sie, Leinwand an Leinwand. Und so hing eine Serie auch in der Cuort Ligia Grischa als ein Fries von Bildern, das sich wie ein Comicstrip von einer Seite der Türe einmal um den Raum erstreckte. Hier ist die Verwandtschaft mit Carigiet augenfällig. Sie zeigt sich aber auch noch in kleineren Massstäben. Im Ausstellungstext heisst es dazu: «In der Serie Aluis stellt jedes Werk ein «Remake» eines existierenden Werkes oder einer Illustration von Aluis Carigiet dar. Ein Ornament, eine Illustration, ein Element des Oeuvres von Aluis Carigiet dient so als Ausgangspunkt für Gienals Bilder der Serie «Aluis».»
Wie etwa die Karohosen des Harlekins, die bei Gienal in anderem Zusammenhang wieder auftauchen. Andernorts finden wir einen Topf, wie er in Schellen-Urslis Maiensäss hing, oder das Ringbrot, an dem er hungernd nagte. Was Gienal gerne macht, ist Spuren legen, Zusammenhänge konstruieren, die vielleicht erst im Kopf des Betrachters Sinn ergeben. «Unser Hirn ist darauf trainiert, Sinn zu erzeugen. Das möchte ich anregen und ausnutzen – doch welcher Sinn entsteht, ist ganz individuell.»
«Han tut mes patratgs plaz sut igl ischi» lautet der Titel der Ausstellung, also: «Haben alle meine Gedanken Platz unter dem Ahorn». Er spielt auf den Baum an, der bei der Kapelle St. Anna in Trun steht, wo früher die Versammlungen des Grauen Bundes stattfanden. Ob sie alle Platz haben, wissen wir nicht, gewiss ist nur, dass Gienal ihre Gedanken bereits auf etwas Neues ausgerichtet hat: Ihr nächstes Projekt widmet sich dem Dios de los muertos, dem mexikanischen Brauch zu Allerseelen. Gienal wird mit dem mexikanischem Künstler Alejandro Garcia Contreras über mehrere Wochen zusammenarbeiten und einen Innenraum in Chur gestalten. Diesmal kommt die Inspiration wieder von weit her.