Das Germanische Nationalmuseum – das grösste kulturgeschichtliche Museum des deutschen Sprachraums – widmet Davos eine Ausstellung. Das verlangt nach einer Erklärung. Zunächst: der Name. Bei Germanen, Nation und Nürnberg denkt man unweigerlich an die Nationalsozialisten, die in dieser bayrischen Stadt ihre Rassengesetze verabschiedeten, monumentale Reichsparteitage inszenierten und zuletzt bei den Nürnberger Prozessen abgeurteilt wurden. Die Geschichte des Museums geht jedoch weit vor dieses dunkle Kapitel zurück. 1852 wurde es ins Leben gerufen, und Germanisch meinte damals schlicht jene Gebiete, in denen Deutsch gesprochen wurde, was mit einer gemeinsamen kulturellen Identität einhergeht, so die Meinung der Gründer. «Das Germanische Nationalmuseum ist eigentlich ein Museum für den gesamten deutschen Sprachraum, auch für die Schweiz und Österreich», sagt heute Generaldirektor Daniel Hess. Womit wir beim zweiten Erklärungsansatz sind: Der Direktor, im Amt seit 2019, ist der erste Schweizer an der Spitze des Museums, und er hat familiäre Verbindungen nach Davos.
Natürlich würde das allein nicht reichen, um in einem Haus, das 1,3 Millionen Objekte beherbergt und über 300 000 Eintritte zählt (in normalen Jahren), eine neue Sonderausstellung einzurichten. Da muss schon etwas dran sein an der These, dass Davos für die Kulturgeschichte Europas von besonderer Bedeutung sei. Und diese zeichnet die von Hess selbst kuratierte Schau auf eine höchst ansprechende, sinnliche und sorgfältige Weise nach.
Entstanden ist die Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Kirchner Museum Davos und den anderen lokalen Museen, vom Wintersportmuseum bis zum Heimatmuseum und der Dokumentationsbibliothek. Eine Koope-ration, die den kulturgeschichtlichen Ansatz widerspiegelt: Statt einzelne Aspekte wie beispielsweise die Kunst oder die Medizingeschichte für sich zu betrachten, versucht die Ausstellung Bezüge zwischen den Themenbereichen herzustellen. Da hängt Kirchners Wiesner Viadukt («Die Brücke bei Wiesen», 1926) gegenüber von Otto Morachs Werbeplakat mit demselben Sujet, gleich hinter der nächste Ecke steht eine Auswahl von verschiedenen Blauen Heinrich, jenem Gefäss, in das die Kranken ihren Auswurf spucken sollten. Wir stossen auf einen alten Davoser Schlitten, auf den Davoser Liegestuhl ebenso wie auf die Ski eines norwegischen Bildhauers, auf Kirchners Grammofon, auf Notizbücher von Thomas Mann und auf Alexander Spenglers Medizinisches Journal.
Am Anfang dieser Geschichte über Davos steht die Tuberkulose. Als Alexander Spengler 1853 als neuer Landarzt von Davos eintraf, war das Landwassertal noch Bauernland, typisch walserisch mit Streusiedlungen befleckt. Der aus Deutschland stammende, als politischer Flüchtling in der Schweiz gelandete Spengler sah sich die Davoser an und sagte sich: Die sind gesund, anders als die Menschen unten in der Stadt, wo die Tuberkulose, die Schwindsucht grassiert. Und so propagierte er das Höhenklima als heilsam für die tödliche Krankheit – eine Behauptung, die Folgen haben sollte. Auch wenn später offenbar wurde, dass die Kuren wenig halfen, ausser dass Ruhe und gute Luft ohnehin guttun, ob krank oder nicht.
Wie dem auch sei: Bald schon erwuchs aus dem Davoser Heilsversprechen ein regelrechter Boom von Kurhotels, Heilanstalten und Sanatorien. Innert kurzer Zeit zog das Landwassertal Kranke und in deren Gefolge Investoren an. Jan Holsboer war so einer, der hier mit Spengler 1868 das Kurhaus Spengler-Holsboer eröffnete und sogleich darum besorgt war, die Verkehrsanbindung zu verbessern. Die RhB weihte 1890 die Strecke Landquart–Davos ein, die Reisezeit verkürzte sich massiv, und Davos wurde vom Dorf zur Stadt: Es entstand eine eigentliche Sanatoriumsarchitektur, eine Kanalisation wurde gebaut, eine zentrale Wäscherei sorgte für hygienischere Verhältnisse.
In den folgenden Jahrzehnten wuchs die Zahl der Patienten auf bis zu 31 000 pro Jahr an, und mit ihnen florierte das kulturelle und intellektuelle Leben in Davos. Es kamen Briten, Russen, Franzosen, ganz Europa. Die prominenten Gäste sind Legion, von Arthur Conan Doyle über Robert Louis Stevenson bis Christian Morgenstern und Thomas Mann. Dessen Jahrhundertroman «Der Zauberberg» nimmt wie Kirchners Werk eine Sonderstellung in der «Kunstgeschichte» von Davos ein. Die Ausstellung lässt aber in der Korona der beiden Grossen ebenso Figuren wie Philipp Bauknecht erscheinen, den anderen Expressionisten, der das Davoser Leben und Sterben jedoch so viel dunkler und verzweifelter schilderte als der Meister. Neben Manns «Zauberberg» stossen wir auf einige Hotelromane aus Frauenhand, etwa Beatrice Harradens «Ships That Pass in The Night» von 1893, der später sogar verfilmt wurde.
Auch Albert Einstein sollte – nach dem Ersten Weltkrieg – in Davos sprechen und sogar musizieren. Anlass waren die Davoser Hochschulkurse, die von 1928 bis 1931 stattfanden und ein Versuch waren, in der Davoser Abgeschiedenheit so etwas wie eine neue europäische Intelligenzija zu bilden. Als Höhepunkt galt das Aufeinandertreffen der Grossphilosophen Ernst Cassirer und Martin Heidegger, dem Juden und dem späteren NSDAP-Mitglied. Freundschaftlich soll es gewesen sein, und Heidegger machte anschliessend sogar die Davoser Pisten unsicher.
Bald aber beginnt die dunkle Zeit: Unter Landesgruppenleiter Wilhelm Gustloff wurde Davos zur grössten Nazi-Zelle der Schweiz, und Gustloff durch das Attentat von David Frankfurter 1936 zum Märtyrer für die nationalsozialistische Sache. Wenig später die nächste Katastrophe, Ernst Ludwig Kirchners Suizid, in der Ausstellung sichtbar gemacht durch seine Pistole, die Tatwaffe. Nicht nur für das Einzelschicksal des von Kriegsängsten geplagten Künstlers steht sie, sondern für die Zerstörung, die im dräuenden grossen Krieg folgen sollte. Das Ende des Ausstellungsrundgangs macht nachdenklich, zumal die Parallelen zur heutigen Zeit nicht von der Hand zu weisen sind: eine Krankheit, die nicht in den Griff zu bekommen ist, polarisierte Gesellschaftskreise, neue nationalistische Tendenzen.
Noch sind die deutschen Museen geschlossen, aber sobald ein Besuch möglich ist, sei er angeraten. Im Herbst kommen die Exponate nach Davos, wo sie in den beteiligten Häusern zu sehen sein werden – aber eben nicht wie in Nürnberg in der Gesamtschau. Wer beides nicht schafft: der Katalog lohnt sich.