Senkrecht auf allen vieren

Bouldern braucht Ausdauer und Kraft. (Foto: Petra Dvorak)

Das Boulderparadies «Magic Wood» in der ­Val Ferrera
Ganz ohne aufwendige Sicherungstechniken die persönlichen Gren-zen ausloten: Das ist Bouldern, eine Reduktion des Kletterns auf das Wesentliche. Eines der grössten Bouldergebiete der Schweiz und unter Boulderern weltweit bekannt ist der «Magic Wood» in der Val Ferrera.
Text 
Maya Höneisen
Bilder 
Thomas Saluz

Übereinander getürmte Felsbrocken, moosbewachsene Steine, darüber hohe Tannen: Fast würde man erwarten, dass in diesem magischen Zauberwald ganz plötzlich Fabelwesen, Elfen und Zwerge aus Felsritzen und zwischen Wurzeln auftauchen würden. Was auftaucht in dieser märchenhaften Atmosphäre, ist aber ganz von dieser Welt. An den Felsbrocken stählen höchstkonzentriert Boulderer ihre Muskeln. Trotzdem: Auch Thomas Saluz, selbst Boulderer und Pächter des zum Boulderparadies «Magic Wood» gehörenden Campings Bodhi ist überzeugt: «Es gibt viele Plätze in diesem Gebiet, die eigentliche Kraftorte sind.»

Mund-zu-Mund-Werbung

Ob sich nun Boulderer für Kraftorte und Trolle interessieren? Vielleicht. Sie zieht aber vor allem eine ganz andere Faszination in diesen Wald: diejenige für aufgetürmte Felsbrocken aus Gneis.

Es war in den 90er-Jahren, als Thomas Steinbrugger, ein Vorarlberger, und der Schweizer Jack Müller zum Eisklettern in die Val Ferrera kamen und die markanten Felsblöcke entdeckten. Im darauf­folgenden Sommer kehrten sie zum Bouldern zurück. Es waren diese beiden, die dem Ort auch den Namen «Magic Wood» gaben. Thomas Saluz kam im Jahr 2000 zum ersten Mal in den «Magic Wood». «Damals traf man höchstens ein bis zwei andere Kletterer im Gebiet», erinnert er sich. Weitere kamen aber bald dazu. «Viele, die einmal da waren, brachten beim nächsten Mal Kollegen mit.» Der rasante Anstieg von Boulderern funktionierte allein durch dank Mund-zu-Mund-Werbung.

Als Weltenbummler unterwegs

Thomas Saluz verabschiedete sich jedoch erst einmal aus der Schweiz. Er hatte eine internationale Kletterreise geplant. «Von Indien nach Neuseeland», erklärt er, «was dazwischen liegt, liess ich offen.» Will heissen, aus welcher Himmelsrichtung er auch immer schliesslich in Neuseeland ankommen sollte. Unterwegs traf er einen Österreicher, reiste mit ihm in den Norden von Thailand und blieb da in einer Kletterschule hängen. Er liess sich als Kletterführer anheuern und besuchte gleichzeitig eine Thai-Massageschule, die er mit Zertifikat abschloss. Nebenbei verdiente er sich auf privater Basis etwas Geld als Höhlenführer. Für rund zweieinhalb Jahre blieb Thailand seine Basis. Von da weg bereiste er Laos und Kambodscha. Eine weitere Reise führte ihn dann doch noch nach Neuseeland. «Wohlgefühlt habe ich mich da aber gar nicht.» Also ging es wieder zurück nach Thailand, wo er vorläufig blieb und seine Frau kennenlernte. Vier Jahre waren inzwischen vergangen. «Irgendwann ging das Geld aus und ich musste zurück in die Schweiz», erzählt er. Er heiratete noch in Thailand und zog mit seiner Frau Netthida nach Chur. Das war Mitte des Jahres 2007.

 

Eine Matte für die eigene Sicherheit macht Sinn.

Profikletterer aus aller Welt

Natürlich zog es Thomas Saluz nach seiner Rückkehr auch wieder in den «Magic Wood». «Schon am frühen Morgen standen auf dem Parkplatz etwa 15 Autos», erzählt er. Er habe gar nicht gewusst, wie bekannt der Ort unter den Boulderern während seiner Abwesenheit geworden sei. Vonseiten der Gemeinde Ferrera war das Gebiet schon im Jahr 2004 in eine Sportzone umgezont worden. Das «Wild-Campieren» mit all seinen Auswüchsen verursachte im Tal aber bald Diskussionen an allen Fronten und war kaum in den Griff zu kriegen. Niemand war mit der Situation im Kletterparadies wirklich zufrieden. Lösungen waren gefragt, die Thomas und Netthida Saluz anpacken wollten.

Im Jahr 2009 erhielten sie dann den Zuschlag für den Bodhi-Camping und starteten in ihre erste Saison im «Magic Wood». Treibende Kraft dahinter sei immer seine Frau gewesen, erzählt er. «Ich war anfangs eher skeptisch.» Zu Beginn sei es auch recht schwierig gewesen, Camping-Regeln und einen Übernachtungspreis durchzusetzen. Das «Wild-Campieren» sei zu dieser Zeit wirklich eine leidige Sache gewesen, erinnert er sich.

Als im Jahr 2012 die Pacht des Gasthauses Edelweiss mit dem «Backpacker Generoso» in Ausserferrera frei wurde, konnten die beiden auch diese Betriebe übernehmen und zogen zusammen mit ihren Töchtern nach Ausserferrera. Zu ihren Gästen zählen sie heute Profikletterer und Anfänger aus der ganzen Welt. So etwa aus Japan, Indien, Südafrika, Amerika und natürlich aus allen europäischen Ländern. Zwischen 7000 und 9500 Übernachtungen sind das pro Jahr.

Die Faszination bleibt

Auch heute noch ist Thomas Saluz vom «Magic Wood» begeistert. Über 1200 Boulder finden sich in diesem Wald auf engem Raum. Eine Dichte, die weltweit einzigartig ist. «Ich werde in meinem ganzen Leben nie alle Boulder klettern können», ist er sich sicher. Fast täglich ist er vor Ort. Um zum einen auf dem Camping zum Rechten zu schauen oder auch, um selbst zu bouldern. Die Faszination für diesen Ort ist geblieben. Die imposanten Felsbrocken, die bemoosten Steine, das Rauschen des Averser Rheins, die besondere Atmosphäre. «Manchmal sitze ich auch einfach mal eine halbe Stunde da und geniesse den Ort», sagt er. Und Elfen, Trolle und Zwerge? «Ja, manchmal könnte man tatsächlich denken, sie würden im nächsten Moment aus Felsritzen oder zwischen Tannen und Wurzeln auftauchen», meint er augenzwinkernd..  

 

Der «Magic Wood» bietet dem Boulderer über 1200 Bou­lder­probleme.

Weitere Infos
Bouldern

Bouldern ist das Klettern ohne Kletterseil und Klettergurt an Felsblöcken, Felswänden oder an künstlichen Kletterwänden in Absprunghöhe (das heisst bis zu einer Höhe, aus der ohne Verletzungsgefahr von der Wand abgesprungen werden kann). Seit den 1970er-Jahren ist das Bouldern eine eigene Disziplin des Sportkletterns und hat vor allem seit den 1990er-Jahren eine rasante Entwicklung erlebt.

Bereits um 1890 bestiegen in Frankreich die sogenannten «Bleausards» die im Wald von Fontainebleau liegenden Sandsteinfelsen. Massgeblich geprägt wurde der Bouldersport durch den Amerikaner John Gill und den Deutschen Wolfgang Fietz. Gill entwickelte bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren neue Klettertechniken und setzte dabei Elemente aus dem Geräteturnen ein. Er verwarf die Drei-Punkt-Regel, nach der beim Klettern von den vier Gliedmassen stets drei mit dem Fels in Kontakt sein sollen und praktizierte stattdessen einen dynamischen Bewegungsstil. Hierdurch konnte er den Schwung der letzten Bewegung für den nächsten Zug nutzen, sodass eine fliessende Gesamtbewegung, ein sogenannter «flow» entstand. Gill hat zudem die Verwendung von Magnesia in den Klettersport eingeführt. Mit diesem Pulver wird der auftretende Handschweiss getrocknet, um die Griffigkeit der Hände zu erhöhen. Zum Schutz vor Sturzverletzungen dienen Bouldermatten.

Der «Magic Wood» ist vor allem für schwierigere Boulder bekannt. Der Schwerpunkt der Schwierigkeitsgrade liegt zwischen 7a bis 8a. Inzwischen gibt es auch einfachere Boulder für Anfänger. Für seine Sicherheit ist jeder Boulderer selbst verantwortlich.

 

Autorin

Maya Höneisen ist regelmässige Mitarbeiterin der «Terra Grischuna». Sie lebt in Paspels. m.hoeneisen@wortmarkt.ch