Die von Strahlen umgebene Jungfrau Maria ziert das Zifferblatt an der Cuort Ligia Grischa, dem einstigen Rathaus des Grauen Bundes in Trun. Die Uhr entstand beim Bau des Hauses 1679. (Foto: Sammlung Markus Joos)
Die Beobachtung des wandernden Schattens stand am Anfang der Zeitmessung. Bereits in der Steinzeit massen die Menschen die sich verändernden Schattenlängen des eigenen Körpers, von Baumstämmen oder markanten Felsnasen. Später setzte man senkrechte, am Boden mit Skalen versehene Pfosten. Dieses System wurde im Lauf der Zeit verbessert, verkleinert und in verschiedene Formen – waagrecht, senkrecht, kugelförmig, zylindrisch, ringförmig – als Wand- oder Standuhren umgesetzt. Sogar klappbare Sonnenuhren im Taschenformat wurden hergestellt.
Diese Fortschritte in Sachen Zeitmessung, die dem gesellschaftlichen Leben und dem zunehmenden Handel nützten, scheinen aber nicht allen gefallen zu haben. Jedenfalls liess der römische Dichter Plautus, der 200 Jahre vor Christus lebte, in einem erhaltenen Lustspieltext seinen gerne schlemmenden Protagonisten jammern: «Mögen die Götter den verderben, der zuerst die Stunde ersann und dazu die Sonnenuhr setzte. (…) Früher war mein Bauch meine Uhr (…), jetzt aber wird nicht gegessen, wenn es der Sonne noch nicht gefällt.» Doch die Entwicklung dieser Zeitmesser ging weiter, selbst als Mitte des 15. Jahrhunderts die ersten Räderuhren aufkamen. Sonnenuhren geniessen ein hohes Ansehen – bis heute, wie ein kurzer Infotrip durch den Kanton gezeigt hat.
Links der geflügelte Handelsgott Merkur, rechts Jupiter als Gott des Himmels und der Allmacht am Haus Pult
in Zuoz. (Foto: Sammlung Markus Joos)
In allen Talschaften Graubündens sieht man solche Zeitmesser der ersten Stunde, meist mit senkrechten Zifferblättern an Hausmauern. Ob alt, ausgebleicht, renoviert oder neu angebracht, wie vor 4700 Jahren werten sie auch heute jeden eintreffenden Sonnenstrahl sogleich aus. Einige spezielle Beispiele stellen wir hier vor.
Die wohl älteste Sonnenuhr im Kanton ist jene am alten Haus Capell in Sils-Baselgia. Sie trägt die Jahrzahl 1564. Zwei durch die Mitte des Zifferblatts laufende Achsen zeigen auf der runden Steinplatte die wirkliche Mittagszeit sowie jeweils 6 Uhr morgens und 6 Uhr abends an. Die Stunden im Zahlenband sind in römischen Ziffern gehalten.
Am Haus Pult in Zuoz findet man an der Süd- und Westwand zwei sich ergänzende Sonnenuhren. Sie entstanden um 1760 und gehören zu den bemerkenswertesten alter Machart in der Schweiz. Ungewöhnlich sind nicht nur die beiden Figuren – der geflügelte Götterbote Merkur mit dem Heroldstab als Sinnbild des Handels sowie Götterkönig Jupiter mit gekröntem Haupt und den Donnerkeilen –, sondern auch die künstlerisch ausgebildeten Zifferbänder.
Zweierlei Stundenangaben gibt die Sonnenuhr an einem Haus an der Hauptstrasse in Ardez. Sie stammt aus dem 18. Jahrhundert und wurde «anno 1930» restauriert. Die Zahlen im eigentlichen Zifferblatt zeigen die Zeit im Frühling und Herbst (Prumaveira e Utuon), die untere Einteilung ist für den Sommer (Temp da Stad). Die beiden Skalen weisen auf ein «Manko» der meisten Sonnenuhren hin. Wegen des wechselnden Sonnenstands, hervorgerufen durch die unregelmässige Drehgeschwindigkeit der Erde auf ihrer ellipsenförmigen Bahn um die Sonne, ergeben sich Differenzen. Nur an vier Tagen im Jahr zeigen Sonnenuhren die «richtige» Zeit, an den übrigen muss man der «Schattenzeit» bis zu 16 Minuten zu- oder abzählen. Wie viel genau, geht aus der Abweichungstabelle hervor, die für die Installation einer Sonnenuhr zu errechnen ist.
Und dennoch stimmt die Sonnenuhr- nicht mit der mechanischen (Armbanduhr-)Zeit überein. Denn unsere Uhren richten sich heute nach der 1893 eingeführten mitteleuropäischen Zeit, Sonnenuhren dagegen zeigen die Lokalzeit an. Diese bleibt zwar für Orte auf demselben Längenmeridian der Erde gleich, verändert sich aber, wenn man sich nach Osten oder Westen verschiebt, um vier Minuten pro Längengrad. Eine Sonnenuhr in
Müstair beispielsweise geht gegenüber einer solchen in Genf um 18 Minuten vor.
Drehbare Skalen machen «Sine sole sileo» auf Muottas Muragl zur genausten Sonnenuhr der Welt. (Foto: Engadin St. Moritz Mountains AG)
Diese «Hürden» meistert die im Sommer 2011 auf Muottas Muragl an einem Findling montierte moderne Sonnenuhr. Sie berücksichtigt die Zeitgleichung und die heutige Sommerzeit. Entwickelt wurde sie vom Hobby-Konstrukteur Fred Bangerter aus Faulensee BE. Es handelt sich dabei um eine Äquatorialsonnenuhr, bei der das Zifferblatt parallel zur Äquatorebene liegt und auf dem Oberengadiner Aussichtsberg eine Neigung von 43,5 Grad aufweist. Eine Tafel gibt über Bedienung und Korrekturwerte Auskunft. Anders als bei den Wanduhren lassen sich an dieser Sonnenuhr auf beweglichen Skalen tagesindividuelle Zeitkorrekturwerte auf 2,5 Sekunden exakt einstellen und so die Abweichung der Ortszeit zur mechanischen Uhrzeit genau korrigieren. Der «Schattenstab» in Zeigerform ist mit einer Ritze ausgerüstet, die einen feinen Lichtstrich in den Schatten wirft. Dadurch ist die Justierlinie, an deren Ende die Zeit abgelesen wird, sehr genau positionierbar. Auf dieser laut Promotoren genauesten Sonnenuhr der Welt kann die Zeit auf 10 Sekunden genau abgelesen werden.
Ihrer Lage wegen «funktioniert» die «Sine sole sileo» (ohne Sonne schweige ich) genannte Uhr aber nur im Sommerhalbjahr, im Winter steht die Sonne zu wenig hoch. In Nächten mit relativ vollem Mond sei sie aber eine fast ebenso genaue «Monduhr», ist in einem Infotext zu lesen. Denn der Mond reflektiert das Sonnenlicht. Und wenn die jeweilige Position des Mondes im Vergleich zur Sonne bekannt sei, könne von der Position des Mondes auf jene der Sonne zurückgeschlossen werden, die Uhr zeige so auch nachts die Sonnenzeit an.
Die Uhren an der Kirche S. Clemente in Grono zeigen die Stunden nach alter italienischer Zählart an. (Foto: Markus Joos)
Anmerkung:
Gemäss der Denkmalpflege Graubünden besteht zurzeit kein Inventar über die Sonnenuhren im Kanton. Falls Sie als Leserin respektive Leser der «Terra Grischuna» Kenntnis über Sonnenuhren im Kanton haben, wären wir Ihnen dankbar für eine kurze Nachricht an den Autor (tg-red-joos@bluewin.ch).