Wandern – von einer Fortbewegungsart zum Freizeitphänomen

Wandern, Grqaubünden, à Specht

Pater Placidus à Spescha in Bergsteigermontur. (Bild: Bündner Monatsblatt 1/2016)

Eine Entwicklung mit grossen Umwälzungen
Der italienische Dichter und Humanist Francesco Petrarca gilt als der erste Wanderer der Geschichte. 1336 beschrieb er die Besteigung 
des Mont Ventoux in der Provence. Über sechs Jahrhunderte sollte es dauern, bis sich das Wandern zu einem Freizeitphänomen entwickelte.
Text 
Andriu Maissen

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren Menschen als Händler, Soldaten, Gesellen, Flüchtlinge oder Pilger unterwegs, der überwiegende Teil zu Fuss. Privilegierte Schichten benutzten entsprechend ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten bequemere Transportmittel, in der Regel Kutschen und später auch die aufkommende Eisenbahn. Einige wenige Unbeirrbare liessen es sich nicht nehmen, auf Bequemlichkeit zu verzichten und waren zu Fuss unterwegs. Wegbereiter dieser Bewegung waren die Reiseliteraten und Naturforscher des 18. Jahrhunderts, die mit Enthusiasmus die Welt erkundeten und ihre Eindrücke niederschrieben.

Der organisierte Wandertourismus
Ein wichtiger Schritt hin zum Wandertourismus war die Entstehung des organisierten Alpinismus, der mit der Gründung des britischen Alpine Club 1857 in London seinen Anfang nahm und dessen Mitglieder auch in der Schweiz zu den ersten Bergsteigern gehörten. Als Reaktion auf die englischen Bergsteiger wurde 1862 der Schweizer Alpen-Club gegründet, der auch in Graubünden bald eine starke Präsenz markierte. Mit dem Bau von unzähligen Unterkünften wurde das Unterwegssein im Gebirge immer einfacher.
Daneben gab es immer mehr Menschen, die ohne Gebirgstour die Landschaft erfahren wollten. Diese bewegten sich vor allem auf Nebenwegen und auf Passstrassen. Auf eine solche Strasse, der Klausenpassstrasse, begab sich um 1930 der Meilemer Lehrer Johann Jakob Ess mit seiner Schulklasse, angesichts des regen Automobilverkehrs ein gefährliches Unterfangen, das ihn zur Forderung nach getrennten Wanderwegen animierte. Im Jahr 1933 gründete Ess zusammen mit Weggefährten die Zürcher Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege, aus der bereits ein Jahr später die Schweizer Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege SAW hervorging. Wie in andern Kantonen entstand in Graubünden ein kantonaler Ableger, der noch während des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1944 gegründet wurde. Mit dem Aufbau eines nationalen Wandernetzes sollte die Bevölkerung zum Wandern animiert werden, um, wie es der SAW-Vizepräsident Max Senger 1942 im Sinn der geistigen Landesverteidigung formulierte: «Die Schweiz verdient es, dass sie nicht nur erfahren oder befahren ... werde, sondern die Schweiz soll erwandert werden. Dadurch erst geht das richtige Verständnis auf für Land und Leute, für Sitten und Gebräuche.»
Sengers Vision wurde Realität: Mit einem Wanderwegnetz von über 50 000 Kilometern entwickelte sich das Wandern zu einer der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen der Schweizer Bevölkerung. 

Wandern, Graubünden, Rheinwald, Gletscher, à Specht

Überquerung des Rheinwaldgletschers mit Pater à Spescha auf der Leiter. Darstellung von J. L. Bleuler, 1818. (Bild: Rätisches Museum, Chur)

​Mobilität als Freiheit

Unterwegssein bot die Möglichkeit, aus der streng hierarchischen Gesellschaftsordnung auszubrechen und mit unterschiedlichsten Menschen in Kontakt zu treten. So marschierte auch Johann Wolfgang von Goethe nur in leichter Wanderkleidung «hinaus in die weite Welt» und konnte sich «zwischen den Welten» bewegen. Vor allem für junge Engländer gehörte ab Mitte des 18. Jahrhunderts die «Grand Tour» zum Erwachsenwerden, die sie über Frankreich nach Italien und durch die Schweiz, das Heilige Römische Reich und die Niederlanden wieder auf die heimatliche Insel zurückführte. Die Schweiz war zunächst lediglich Durchgangsland, die damals gefährliche Überquerung der Alpen war gefürchtet, wurde aber später mehr und mehr auch selber zum Ziel der Tour.
Mit der Einführung der bürgerlichen Rechte im Zuge der Französischen Revolution wurde immer mehr Menschen eine grössere Mobilität ermöglicht. Die Revolutionsparole «Liberté, Égalité et Fraternité» liess sich im Unterwegssein mit Gleichgesinnten besonders gut verwirklichen. Auch die zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufkommende romantische Vorstellung einer freien Natur hatte eine breite Sogwirkung. Im Gegensatz zu früheren Zeiten waren Landschaft und Gebirge nicht mehr die abschreckende Unbekannte, sondern gehörten zur guten, frei machenden Natur.

Wandern, Graubünden, Maloja

Wanderungen zu Aussichtspunkten: Aussicht vom Maloja
pass ins Bergell, um 1880. 
(Bild: Rätisches Museum, Chur)

​Die Erschliessung der Alpen

In der Schweiz war die Erschliessung der Alpen eine wichtige Voraussetzung für das Aufkommen des Wandertourismus. Pioniere wie Johann Jakob Scheuchzer oder Albrecht von Haller waren in erster Linie aus wissenschaftlichen Gründen unterwegs. In ihren Beschreibungen kommt aber immer wieder eine grosse Freude am Unterwegssein zum Ausdruck.
Die «Schesaplana Bergreis» von Nicolin Sererhard (1689 bis ca. 1755) gilt als erste Beschreibung einer Bergbesteigung in Graubünden. Der Seewiser Pfarrer und Bergpionier unternahm diese im Jahr 1730 und beschrieb die Aussicht vom Gipfel der Schesaplana. Sererhards zwölf Jahre später entstandene «Einfalte Delineation aller Gemeinden gemeiner dreyen Bünden» gilt als Meilenstein der Bündner Landeskunde.
Ein weiterer Pionier aus Graubünden war der Disentiser Benediktinerpater Placidus à Spescha (1752–1833), der in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zunächst vom Hospiz S. Gagl am Lukmanierpass aus die Bergwelt der Umgebung und später jene der gesamten Surselva erkundete und kartografisch festhielt. Seine 1801 verfasste Anleitung für Bergreisen enthält detaillierte Angaben zur Ausrüstung, zur Ernährung oder zum Wetter – Angaben, die man heute als Wandertipps bezeichnen würde. 
Mitte des 19. Jahrhunderts begann der deutsche Naturwissenschaftler und Theologe Gottfried Ludwig Theobald, der nach seiner politisch bedingten Flucht in die Schweiz an der Kantonsschule in Chur als Naturkundelehrer tätig war, mit der kartografischen Darstellung der Bündner Alpen.
Mit der literarisch-naturwissenschaftlichen Beschreibung und Darstellung verlor sich langsam die «Angst vor dem Gebirge», mit der Folge, dass immer mehr Menschen sich in höhere Gefilde vorwagten und populäre Reiseführer verfasst wurden. Für die Schweiz war Johann Gottfried Ebel (1764–1830) einer der Pioniere der Reiseliteratur, der Graubünden mit Ausnahme von summarischen und teilweise recht kühnen Routenbeschreibungen links liegen liess, mit der Begründung, dass wer «die Schweitz durchreiset hat, in Graubündten nichts Grosses, Ausserordentliches und Schönes in der Natur findet, was ihn als neu frappiren wird». In den ab 1844 erscheinenden Baedeker-Reiseführern wurde auch Graubünden gewürdigt, und zusammen mit den nach der Jahrhundertmitte erhältlichen topografischen Karten (Dufour- und Siegfried-Karten) entstanden nützliche Hilfsmittel für Reisende. 

Wandern, Spazieren, Hotel, Hotelpark, St. Moritz

Promenierende Gäste vor dem Hotel «Palace» in St. Moritz um 1896. Zeichnung von Johann Weber.

​Tourismus und Wandern – eine gemeinsame Geschichte

Die Geschichte des Wanderns ist unteilbar mit dem modernen Tourismus verbunden, eine Entwicklung, die mit der steigenden Mobilität im 19. Jahrhundert – Strassen- und Eisenbahnbau, Dampfschifffahrt und Entstehung des Automobils – ihren Anfang nahm. Aus den politischen Umwälzungen der Französischen Revolution ging eine finanzkräftige bürgerliche Schicht hervor, die das vom europäischen Adel gepflegte Reiseverhalten imitierend mit dem Bau einer eigenen touristischen Infrastruktur begann. Nach 1850 entstanden in den heute noch führenden Bündner Tourismusdestinationen Davos, St. Moritz, Arosa oder Flims neue Unterkünfte. Rund um die Hotelbauten entstanden Pärke und Promenaden, und durch besonders schöne Landschaften oder zu Naturdenkmälern wurden touristische Wege angelegt, die die betuchte Kundschaft zum Wandern einluden.  
War das Wandern bis Ende des 19. Jahrhunderts noch der Ober- und Mittelschicht vorbehalten, kam unter der Arbeitnehmerschaft das Bedürfnis auf, sich ebenfalls in der Natur aufzuhalten. Voraussetzung dafür war eine massive Kürzung der Arbeitszeit, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkämpft werden musste, wodurch Freizeit und Ferien auch für die breite Masse der Bevölkerung Realität wurden. Aus finanziellen Gründen konnte diese nicht die bestehende, eher luxuriöse touristische Infrastruktur in Anspruch nehmen. Zudem wollte man bei der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft die Freizeit auch unter ihresgleichen und nicht mit dem «Klassenfeind» verbringen. Dies wurde mit der im Jahr 1895 in Wien gegründeten sozialistischen Bewegung der Naturfreunde ermöglicht, die mit einer ersten Hütte am Säntis und später auch in Graubünden Fuss fasste.

Weitere Infos

Autor
Andriu Maissen ist freischaffender Historiker und Raumplaner und lebt in Zürich. Im Mai 2016 ist im Rotpunktverlag sein Wanderbuch «Im Alpenrheintal – Auf Wanderschaft zwischen Bodensee, Alpstein und Sargans» erschienen.
andriumaissen@bluewin.ch

Literatur
Flückiger-Strebel, Erika (2012): Velo- und Fussverkehr in der modernen Schweiz: ein historischer Überblick. In: Wege und Geschichte, ViaStoria, Bern; Historisches Lexikon der Schweiz HLS, www.hls-dhs-dss.ch; Krüger, Arnd (2010):
Historie des Wanderns. In: Dreyer, Axel u. a.: Wandertourismus, München.