Wild wachsende Orchideen in der Bündner Natur

Orchideen, Flims, Surselva, Laax, Sagogn, Frauenschuh

Wohlriechende Handwurz bei Flims.

Indikatoren für eine intakte Natur
Die grosse Zahl an einheimischen Orchideenarten in Graubünden weist auf die Vielfalt von natürlichen Lebensräumen hin. Dieser Reichtum ist schützenswert und trägt zur Attraktivität des Kantons bei.
Text 
Dirk F. Went

Schon immer haben Orchideen magische Anziehungskraft auf die Pflanzenliebhaber ausgeübt. Das mag an der ausserordentlichen, manchmal
bizarren Schönheit ihrer Blüten und an ihrer Seltenheit liegen. Wirtschaftlich hatten sie – ausser das Gewürz Vanille (Vanilla planifolia), eine tro­pische, lianenartige Kletterpflanze – jedoch nie gros­se Bedeutung. Im Mittelalter war in Europa das Kleine Knabenkraut (Orchis morio) seiner Knollen wegen gesucht, deren Extrakt eine stärkende Wirkung auf die Zeugungskraft zugeschrieben wurde. Später stellte man aus den Knollen ein Produkt namens Salep her, das als Medi­kament gegen Durchfall eingesetzt wurde. Heute wird in der Türkei Salep noch als Arznei und Zusatz für Milch verwendet, der Handel damit ist in Europa jedoch verboten. Seitdem es gelingt, exotische Orchideen zu züchten, ist der Blumenhandel mit Orchideen zu einem wirtschaftlichen Faktor geworden.

Die Orchideenfamilie gehört mit ihren über 25 000 Arten zu den artenreichsten Pflanzenfamilien der Welt. 74 Arten kommen in der Schweiz vor. Sie sind alle terrestrisch, d. h., sie wurzeln im Erdboden. In Graubünden sind 53 Orchideen­arten nachgewiesen, darunter die nachstehend ­erwähnten Arten. Die bekannteste ist der Frauenschuh (Cypripedium calceolus). Viele dieser Arten sind aber wenig spektakulär. Einige haben unscheinbare Blüten, andere sind kleinwüchsig und werden deshalb leicht übersehen.

Rotes Männerstreu, Flims, Laax, Sagogn, Orchide, Surselva, Trin

Rotes Männertreu bei Flims (Tektonikarena)

Betörender Duft

Besonders interessant und gut untersucht ist die Fortpflanzung der einheimischen Orchideen. Insekten spielen dabei eine Schlüsselrolle. Vom betörenden Duft angezogen, besuchen sie die Orchideen und übertragen die Pollen. Viele der einheimischen Orchideen strömen auch für Menschen wahrnehmbare Düfte aus. Dies spiegelt sich in den deutschen Namen wider: beispielsweise die stark duftende Honigorchis (Herminium monorchis) oder die angenehm nach Vanille duftende Wohlriechende Handwurz (Gymnadenia odoratissima). Auch Schwarzes und Rotes Männertreu (Nigritella rhellicani und N. rubra) riechen stark nach Vanille. Der Geruch von Wanzen-Knabenkraut (Orchis coriophora) erinnert allerdings unangenehm an Blattwanzen.
 
Beim Besuch der Blüten durch die Insekten werden die Pollenfächer mit Klebdrüsen an den Insektenkörper geheftet, beim nächsten Blütenbesuch wieder abgegeben und so die Bestäubung der Pflanzen vollzogen. Zu diesem Zweck hat die Orchideenblüte ein Blütenblatt zur Lippe ausge­bildet, die als Landeplatz funktioniert. Diverse Arten bieten Nektar an, manchmal in einem dünnen und langen Sporn der Blütenlippe, der allerdings nur von langrüssligen Schmetterlingen erreicht werden kann. Einige Orchideenarten (u. a. Fingerwurz- und Knabenkrautarten) täuschen durch Duft, Form und Farbe perfekte Nektarblumen vor. Ihr Sporn enthält aber keinen Nektar. Gleiches gilt für alle Ragwurzarten, sogenannte Sexualtäuschblumen, die in Duft und Gestalt weiblichen Bienen oder Wespen gleichen. Die Ähnlichkeit ist so gross, dass die männlichen Insekten versuchen, mit den Blüten zu kopulieren. Der Frauenschuh, eine sogenannte Kesselfallenblume, lockt die Insekten ebenfalls mit ihrem Duft. Diese rutschen in die pantoffelförmige Lippe, streifen beim Austritt die Staubbeutel und bedecken sich so mit der Pollenmasse. Kleinen, kräftigen Insekten, wie z. B. Sandbienen, gelingt der Ausgang; schwache oder (zu) grosse Insekten kommen im «Gefängnis» um.

 

Millionen von kleinsten Samen

Eine Besonderheit der Orchideen betrifft ihre Samen. Die nach der Bestäubung in den Samenkapseln produzierten Samen sind sehr leicht und
werden in riesigen Mengen (Hunderttausende bis Millionen) produziert. Die Samen von Moosorchis (Goodyera repens) gehören mit ihrem Gewicht von nur 0,002 mg zu den kleinsten im Pflanzenreich. Der Vorteil des geringen Gewichts besteht darin, dass die Samen vom Wind über grosse Strecken transportiert werden können; der Nachteil der winzigen Samen ist, dass sie kein Nährgewebe enthalten. Die Sämlinge sind aus diesem Grund für Keimung und Wachstum auf bestimmte Bodenpilze im Boden angewiesen. Der Pilz dringt mit seinen Fäden in den Keimling ein und führt ihm lebenswichtige Nährstoffe zu. Deswegen führen auch Verpflanzungen von Orchi­deen (wie sie widerrechtlich beim Frauenschuh immer wieder versucht werden) normalerweise nicht zum Erfolg. Sämtliche einheimische Orchideenarten sind in der Schweiz bundesrechtlich geschützt und dürfen u. a. weder gepflückt noch ausgegraben werden.

Die grosse Zahl an einheimischen Orchideen in Graubünden zeigt, dass die Natur an vielen Or­ten noch intakt ist. Die Vielfalt an Biotopen im Kanton setzt sich u. a. aus Wäldern (Fichtenwald, Föhrenwald, Lärchenwald, Buchenwald), ungedüngten Wiesen und Weiden, Zwergstrauchgürtel, Hochgebirgsrasen und Feuchtgebieten wie Hang- und Flachmooren zusammen. Ein Beispiel für ein Biodiversitäts-Hotspot für Orchideen ist die Gegend zwischen Tamins und Ilanz in der Surselva. In diesem Gebiet wachsen 41 Orchideenarten, da­runter sehr seltene wie z. B. Spinnen-Ragwurz (Ophrys sphegodes, Trin), Zartes Einblatt (Malaxis monophyllos) und Blattloser Widerbart (Epipogium aphyllum), beide im Flimser Wald, sowie Wanzen-Knabenkraut (Orchis coriophora, Sagogn). Die grossen Bestände an Frauenschuh in Trin sind schweizweit bekannt.

Frauenschuh, Orchidee, Trin, Surselva

Die wohl bekannteste Orchidee, der Frauenschuh bei Trin

Artenreiches Rheintal

Das Churer Rheintal zwischen Chur und Fläsch ist die Heimat diverser seltener Ragwurz- und Knabenkrautarten und im lichten, südexponierten Mischwald Levisun bei Malans wachsen wenige Schweizer Exemplare der Piacenza-Stendelwurz (Epipactis placentina). Die Orchideenvielfalt in Graubünden kann hier aus Platzgründen nicht beschrieben werden. Es sei deshalb nur noch auf die 17 Orchideenarten im Schweizerischen Nationalpark hingewiesen, die von C. und B. Wartmann in einem handlichen Büchlein beschrieben werden. Im hoch gelegenen Park sind die meisten der über der Baumgrenze wachsenden Orchideenarten anzutreffen.

Meldungen über Orchideenfunde werden dem Verein AGEO (Arbeitsgruppe Einheimische Or­chideen) mitgeteilt, der auch eine entsprechende Datenbank führt. Es gibt wahrscheinlich keine Pflanzenfamilie in der Schweiz, über die so viele Angaben vorliegen. Allein aus Graubünden hat es bis zum letzten Jahr 41 154 Fundmeldungen gegeben! Die ersten Meldungen stammen von Mitte des 19. Jahrhunderts, damals natürlich noch ohne genaue Koordinaten. Heute werden bei den Fundmeldungen der Gemeindename, Flurname, Datum, genaue Koordinaten, Höhe über Meer, Biotop, Anzahl Pflanzen und der Vegetationszustand angegeben. Mithilfe dieser Daten ist es möglich, die Bestandesabnahme (oder seltener: eine Bestandeszunahme) einzelner Arten zu dokumentieren. Wenn es gelingt, mit entsprechenden, die Natur berücksichtigenden Massnahmen die heutige Vielfalt an Orchideenarten im Kanton Graubünden zu erhalten, werden sich nicht nur die Orchideenliebhaber, sondern auch viele Touristen auf ihren Wanderungen im Sommer an den Blumen erfreuen.

Weitere Infos

Autor
Dirk F. Went war Dozent an verschiedenen Instituten der ETH Zürich. Er lebt in Erlenbach und Flims.
d.went@bluewin.ch

Literatur
Claudia und Beat Wartmann: Orchideenwanderun­gen im Schweizerischen Nationalpark, 170 Seiten, 190 Abbildungen, Verlag Wartmann Natürlich, Oberengstringen 2014, CHF 15.–;
Dirk F. Went: Orchideen auf Flimser Gemeindegebiet, 92 Seiten mit farbigen Abbildungen, Edition «Terra Grischuna», Somedia Buchverlag, Chur 2015, CHF 19.50

Online
www.ageo.ch