Margrit Hartmann erntet im Lugnez Sanddornbeeren.
Sie bauen Braugerste an, pflücken und verarbeiten wild wachsende Sanddornbeeren, ernten und brennen Purpurenzianwurzeln oder züchten graue Ziegen und wollige Urschweine. Alte Kartoffel gehören zu ihrem heutigen Geschäft, Parli heissen diese Knollen oder Röseler; sie brennen Arvenschnäpse oder Iva-Liköre, verkäsen die Milch zu Mascarpin und bauen Teekräuter an für die Szenegastronomie in den Städten. Und gemeinsam mit den Bäckern und Metzgern sorgen sie dafür, dass Geissenwürste oder Eselmöckli in Graubünden ebenso zur kulinarischen Vielfalt gehören wie die «Fuatscha grassa» oder die «Barscedèla». Ein stattlicher Teil der Bauern und Bäuerinnen Graubündens hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine starke Position erarbeitet. Dies vor allem dank einer oft erfolgreichen Kooperation mit Köchen und dem heimischen Lebensmittelgewerbe. Mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass sich die Gastronomie dank der wachsenden regionalen Bio- und Produktdiversität neu profilieren kann.
Sicher waren die Bündner Winzer die Vorreiter dieser starken Entwicklung hin zu den wiederentdeckten kulinarischen Traditionen, die wiederum Auslöser waren für unzählige Innovationen. Die Winzerinnen und Winzer erhielten als erste ein Gesicht und erzählten ihre Geschichte, was sie für die Medien zusehends interessanter machte. Nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte liegt denn auch das Potenzial, das Graubündens Landwirtschaft in den vergangenen Jahren wieder verstärkt zu nutzen begonnen hat. Etwa mit Produkten, die beispielsweise von den Getreideterrassen und den alten Mühlen des Engadins erzählen, vom Domleschger Obstweg mit seinen prächtigen Hochstammbäumen, von den «Scalé», den alten aus Stein gebauten Milch- und Käsekühlhäusern in Brusio, von den alten Gemüsegärten von Santa Maria im Calancatal oder von den Kastaniendörrhäusern im Misox oder im Bergell, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Bündner Spitzenprodukte: Speck
Sanddorn aus dem Lugnez
Bergkartoffeln aus dem Albulatal
Purpurenzianwurzeln aus dem Bündner Oberland
Vielseitig präsentiert sich der Kanton, der als einziges Staatsgebilde des Alpenraums süd- wie auch nordalpine Einflüsse in sich vereint und in dem gleichzeitig ost- und westalpine Ernährungstraditionen aufeinanderprallen. Mitten durch Graubünden hindurch zieht sich etwa die Grenze zwischen den Roggenbrötlern des Nordens und den Weizenbrötlern des Südens. Ebenso wie die Trennlinie zwischen den Sauermilchkäsekulturen der Ostalpen und den Labkäsetraditionen des westlichen Alpenraums. Da zudem Graubünden dank seiner zahlreichen Pässe historisch für den transalpinen Handel immer eine wichtige Rolle spielte, hat sich in der Landwirtschaft wie auch im lebensmittelverarbeitenden Gewerbe eine ungemeine Vielfalt entwickelt. Früh bereits etwa haben nach der Entdeckung von Süd- und Nordamerika die zwei Neuankömmlinge Mais und Kartoffel in Graubündens Tälern und Höhen Fuss gefasst – weit früher als in anderen Regionen Mitteleuropas. Spuren, die heute noch in der Landwirtschaft wie in der Kulinarik zu finden sind. Mais wie Kartoffel sind heute in der traditionellen Küche nicht mehr wegzudenken und werden enorm vielseitig und auch einzigartig verwendet. Die «Lionga di tartufels» etwa, die mit Kartoffeln gestreckte Wurst, ist eines dieser Beispiele, so wie der Maluns, der ursprünglich mit dem in Graubünden einst weitverbreiteten Buchweizen gekocht und der später durch die Kartoffel und den Mais oder gar durch eine Mischung der beiden ersetzt wurde.
Im Getreidebau haben die Bündner Biobauern unter dem Dach der Genossenschaft Gran Alpin neue Massstäbe gesetzt und eine breite Palette an verarbeiteten Produkten entwickelt. Heimische Rollgerste für die traditionelle Gerstensuppe gehört ebenso dazu wie Bündner Biobiere, spezielle Brotrezepte oder Pizzoccheri aus Weizen und aus Buchweizen. Bei den Kartoffeln waren es die Filisurer Biobauern Sabina und Marcel Heinrich-Tschalèr, die schweizweit die Führungsrolle im Anbau alter und wiederentdeckter Kartoffelsorten übernommen hat. Sie ernten heute Jahr für Jahr Dutzende von Tonnen Biobergkartoffeln, rund 30 Sorten sind es mittlerweile, die sich zu begehrten Produkten der Spitzengastronomie entwickelt haben.
Vielfältig weiterentwickelt haben die Bündner Landwirte auch ihre alten Fleischtraditionen. Seit Urzeiten war Bündner Vieh und ihr Fleisch ein begehrtes Exportgut für die früh entwickelten Märkte Norditaliens und seiner schon im Mittelalter verhältnismässig riesigen Städte. Heute sind es nicht mehr nur Bündnerfleisch und Salsiz, die das Angebot bestimmen, hinzugekommen sind unzählige Spezialitäten aus den verschiedenen heimischen Tierrassen, vom Bündner Grauvieh oder von der Bündner Strahlenziege bis hin zu Fleischrassen, die man aus benachbarten Regionen übernommen hat, wie etwa die Evolèner Rinder aus dem Wallis. Fabienne und Lukas Buchli aus Scharans im Domleschg haben sich auf diese Urrinder ebenso spezialisiert wie auf die Aufzucht der ursprünglich aus Kroatien stammenden Turopolje-Schweine. Dankbarer Abnehmer für das aussergewöhnliche Fleisch ist heute der Bündner Starkoch Andreas Caminada.
Kartoffelernte auf dem Hof Las Sorts von Sabina und Marcel Heinrich in Filisur.
Die Zusammenarbeit zwischen Produzenten und Köchen ist in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Mittel geworden, damit die Züchter, Landwirte oder Gemüsebauern auch bei den Konsumentinnen und Konsumenten bekannter werden und ihre Produkte neue Absatzkanäle erlangen. Köche wie Andreas Caminada, Hansjörg Ladurner vom Restaurant «Scalottas» in der Lenzerheide oder die nach Graubünden zurückgekehrte Naturköchin Rebecca Clopath aus Lohn auf dem Schamser Berg sorgen dafür, dass ihre Produzenten eine Plattform erhalten, von den Medien entdeckt werden und so auch ein Gesicht bekommen. Kartoffelpionier Marcel Heinrich gehörte zu den ersten, die von dieser Entwicklung profitierten. «Ohne die Unterstützung der Köche, die sich für die unterschiedlichen Qualitäten der verschiedenen Kartoffelsorten zu interessieren begonnen haben, hätten wir am Markt nie diesen Erfolg haben können», sagt Heinrich. Die Profilierung der heimischen Gastronomie über lokale und regionale Produkte wiederum dürfte sich so wie etwa im Südtirol auch in Graubünden zu einem wichtigen und nachhaltigen Wert für die Gastronomie und die Hotellerie entwickeln.
Käse aus Andeer von Martin Biedert
Im historisch vorwiegend vom Fleischexport geprägten Bündnerland hat sich auch die Käsewirtschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine neue, über Jahrhunderte kaum vorhandene Position im Schweizer Käsemarkt erobert. Käser wie das Paar Martin Bienerth und Maria Meyer von der Sennerei Andeer, der Käsermeister Jürg Flükiger aus Splügen oder die Suferser Käser Dionis und Vreni Zinsli etwa gehören heute zu den bekannten Gesichtern der innovativen Schweizer Käsebranche ebenso wie die Mascarpin-Käserin Vreni Cadurisch aus Maloja. Mit der Wiederentdeckung der alten Traditionen wie dem Mascarpin oder Mascarpel, einem Vollmilch-Ziegenziger, haben Zinslis und Cadurisch einen Urkäse aus der Versenkung geholt, der heute zu den grossen Käsespezialitäten dieses Landes gehört. Cadurischs Ziegenziger etwa, den sie im Sommer in ihrer Kleinkäserei im idyllischen Isola am Silsersee von der Milch ihrer Ziegen herstellt, ist im Hochsommer oft schon am Mittag fast ausverkauft, da er frisch aus dem Käsekessel und noch lauwarm so wunderbar nach Vanille schmeckt, dass man ihn gar nicht erst einpacken lässt. Doch auch in reiferem Zustand – auch nach zwei- oder dreimonatiger Lagerung – passt er als Reibkäse etwa hervorragend zu einer Polenta, vor allem, wenn diese noch mit einem Gitzibraten serviert wird.
Von der Landschaft und vom Terroir Graubündens erzählen auch zahlreiche wiederentdeckte Traditionen wie etwa der Schnaps aus den Wurzeln des Purpurenzians, die im Alpenraum einzig Gion Candinas noch in seiner Brennerei in Surrein in der Surselva brennt. Die Wurzeln des Purpurenzians sind intensiver im Geschmack als jene seines weit bekannteren Artgenossen, des Gelben Enzians, des wichtigsten Enziangewächs, das im Alpenraum gebrannt wird. Ebenso einzigartig sind auch der Iva-Likör und der Iva-Schnaps, die heute wieder von einigen Produzenten mit dem Kraut der Moschus-Schafgarbe angesetzt werden, wie das über Jahrhunderte in Graubünden der Brauch war.
Wie Candinas haben auch andere Produzenten und Landwirte das Terroir wiederentdeckt. In der wilden und traumhaften Landschaft der Val Lumnezia etwa ernten Adolf und Margrit Hartmann Jahr für Jahr in einem fast einen Quadratkilometer grossen Sanddorngebiet die vitaminreichen und geschmackvollen Beeren dieser Pflanze, die viele nur noch als Zierpflanze aus den Vorgärten kennen. Eine Pflanze, die im gesamten eurasischen Raum verbreitet ist, aber nur selten ihren Weg auch in die Höhen des Alpenraums findet. Der Sanddorn gehört zur Familie der Ölweidengewächse. Man kennt ihn auch unter dem Namen Fasanenbeere oder Weidendorn. Die orangen, säurehaltigen Beeren werden von den Hartmanns zu ungesüsstem Sanddorn-Ursaft oder zu Sanddornsirup verarbeitet. In ihrem Heim in Trans, im kleinsten aller Domleschger Bergdörfer, produzieren die Hartmanns zudem auch Latwerge aus wildem Wacholder und Melissen-Hagebutten-Sirup. Ihre Produkte vertreibt das Ehepaar Hartmann insbesondere an viele langjährige Stammkunden und Sanddornliebhaber, in den vergangenen Jahren wurden sie von der Spitzengastronomie förmlich einverleibt: Kaum ein Sternekoch, bei dem Hartmanns Sanddornbeeren nicht auf der Karte zu finden sind.
Einst fast ausgestorben, hat das Rätische Grauvieh Graubünden wieder erobert.
Allerdings haben die Bauern, die Köche, die Bäcker, Brenner oder Metzger Graubündens noch längst nicht alle Schätze gehoben, die es noch zu entdecken gilt. Jährlich tauchen neue Produkte auf, die man selbst früher so nicht gekannt hat. So scheinen selbst die Blüten der Alpenrosen die Fantasien und die Innovation zu beflügeln: Vom Alpenrosenhonig bis hin zum Alpenrosensirup oder zum Alpenrosengelee reicht die Palette, selbst die Ginbrenner von Breil Pur aus Brigels verwenden die Blüten des Rhododendronpflänzchens für ihre hochprozentigen Gewürzbrände.
Mit der Wiederentdeckung alter Getreidesorten wie dem Dinkel, dem Emmer oder dem Einkorn, die zurzeit noch von wenigen Bauern angebaut werden, geht auch die weitere Entwicklung der eh schon grossen Brottradition Graubündens einher, wenn auch noch zaghaft. Hier liegt noch einiges an Potenzial brach. Gräbt man in alten Quellen, so wird einem die schier unendliche Vielfalt bewusst, die zu grossen Teilen noch vor sich hinschlummert. Allein die Namen, insbesondere die romanischen, dürften in den kommenden Jahren hoffentlich viele Bäcker dazu ermuntern, sich ihrer Geschichte wieder zu besinnen und sich so von den übermächtigen Grossverteilern abheben zu können. Denn wer könnte in der Bäckerei diesem lautmalerischen Gebäckreigen widerstehen, von dem uns heute noch alte Backbücher aus Graubünden erzählen: rasdüro, baschadélas, creschéints oder kraschantins, pawn nué oder strüzzels, pan cun fik oder panfört, pan da vilana, navét, padlàna, pretzlas oder barbulàda.