Das kulinarische Erbe wiederentdecken

Kulinarik Lugnez Sanddorn

Margrit Hartmann erntet im Lugnez Sanddornbeeren.

Tradition und Innovation in der Landwirtschaft
Heute wird wieder viel von Tradition und der «Terroir-Küche» ­gesprochen. Viele landwirtschaftliche Betriebe haben sich neu orientiert und sich auf alte Produkte besonnen. Regionalität ist wieder im Kommen und die Landwirtschaftsbetriebe lassen sich von der Gastroszene inspirieren.
Text 
Dominik Flammer
Bilder 
Sylvan Müller

Sie bauen Braugerste an, pflücken und verarbei­ten wild wachsende Sanddornbeeren, ernten und brennen Purpurenzianwurzeln oder züchten graue Ziegen und wollige Urschweine. Alte Kartoffel gehören zu ihrem heutigen Geschäft, Parli heissen diese Knollen oder Röseler; sie brennen Arvenschnäpse oder Iva-Liköre, verkäsen die Milch zu Mascarpin und bauen Teekräuter an für die Szenegastronomie in den Städten. Und gemeinsam mit den Bäckern und Metzgern sorgen sie dafür, dass Geissenwürste oder Eselmöckli in Graubünden ebenso zur kulinarischen Vielfalt gehören wie die «Fuatscha grassa» oder die «Barscedèla». Ein stattlicher Teil der Bauern und Bäuerinnen Graubündens hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine starke Position erarbeitet. Dies vor allem dank einer oft erfolg­reichen Kooperation mit Köchen und dem heimischen Lebensmittelgewerbe. Mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass sich die Gas­tronomie dank der wachsenden regionalen Bio- und Produktdiversität neu profilieren kann. 

 

​Die Winzer als Pioniere

Sicher waren die Bündner Winzer die Vorreiter dieser starken Entwicklung hin zu den wiederentdeckten kulinarischen Traditionen, die wiederum Auslöser waren für unzählige Innovationen. Die Winzerinnen und Winzer erhielten als erste ein Gesicht und erzählten ihre Geschichte, was sie für die Medien zusehends interessanter machte. Nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte liegt denn auch das Poten­zial, das Graubündens Landwirtschaft in den vergangenen Jahren wieder verstärkt zu nutzen ­begonnen hat. Etwa mit Produkten, die beispielsweise von den Getreideterrassen und den alten Mühlen des Engadins erzählen, vom Domleschger Obstweg mit seinen prächtigen Hochstammbäumen, von den «Scalé», den alten aus Stein gebauten Milch- und Käsekühlhäusern in Brusio, von den alten Gemüsegärten von Santa Maria im Calancatal oder von den Kastaniendörrhäusern im Misox oder im Bergell, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. 

Landwirtschaft, Produkte

Bündner Spitzenprodukte: Speck

Sanddorn

Sanddorn aus dem Lugnez

Bergkartoffeln

Bergkartoffeln aus dem Albulatal

Einzianwurzeln

Purpurenzianwurzeln aus dem Bündner Oberland

​Roggen- und Weizenbrötler

Vielseitig präsentiert sich der Kanton, der als einziges Staatsgebilde des Alpenraums süd- wie auch nordalpine Einflüsse in sich vereint und in dem gleichzeitig ost- und westalpine Ernährungstradi­tionen aufeinanderprallen. Mitten durch Graubünden hindurch zieht sich etwa die Grenze zwischen den Roggenbrötlern des Nordens und den Weizenbrötlern des Südens. Ebenso wie die Trennlinie zwischen den Sauermilchkäsekulturen der Ostalpen und den Labkäsetraditionen des westlichen Alpenraums. Da zudem Graubünden dank seiner zahlreichen Pässe historisch für den transalpinen Handel immer eine wichtige Rolle spielte, hat sich in der Landwirtschaft wie auch im lebensmittelver­arbeitenden Gewerbe eine ungemeine Vielfalt entwickelt. Früh bereits etwa haben nach der Entdeckung von Süd- und Nordamerika die zwei Neuankömmlinge Mais und Kartoffel in Graubündens Tälern und Höhen Fuss gefasst – weit früher als in anderen Regionen Mitteleuropas. Spuren, die heute noch in der Landwirtschaft wie in der Kulinarik zu finden sind. Mais wie Kartoffel sind heute in der traditionellen Küche nicht mehr wegzudenken und werden enorm vielseitig und auch einzigartig verwendet. Die «Lionga di tartufels» etwa, die mit Kartoffeln gestreckte Wurst, ist eines dieser Beispiele, so wie der Maluns, der ursprünglich mit dem in Graubünden einst weitverbreiteten Buchweizen gekocht und der später durch die Kartoffel und den Mais oder gar durch eine Mischung der beiden ersetzt wurde.

​Getreide und Kartoffeln

Im Getreidebau haben die Bündner Biobauern unter dem Dach der Genossenschaft Gran Alpin neue Massstäbe gesetzt und eine breite Palette an verarbeiteten Produkten entwickelt. Heimische Rollgerste für die traditionelle Gerstensuppe gehört ebenso dazu wie Bündner Biobiere, spezielle Brotrezepte oder Pizzoccheri aus Weizen und aus Buchweizen. Bei den Kartoffeln waren es die Fili­surer Biobauern Sabina und Marcel Heinrich-Tschalèr, die schweizweit die Führungsrolle im Anbau alter und wiederentdeckter Kartoffelsorten übernommen hat. Sie ernten heute Jahr für Jahr Dutzende von Tonnen Biobergkartoffeln, rund 30 Sorten sind es mittlerweile, die sich zu begehrten Produkten der Spitzengastronomie entwickelt haben.
Vielfältig weiterentwickelt haben die Bündner Landwirte auch ihre alten Fleischtraditionen. Seit Urzeiten war Bündner Vieh und ihr Fleisch ein begehrtes Exportgut für die früh entwickelten Märkte Norditaliens und seiner schon im Mittelalter verhältnismässig riesigen Städte. Heute sind es nicht mehr nur Bündnerfleisch und Salsiz, die das Angebot bestimmen, hinzugekommen sind unzählige Spezialitäten aus den verschiedenen heimischen Tierrassen, vom Bündner Grauvieh oder von der Bündner Strahlenziege bis hin zu Fleischrassen, die man aus benachbarten Regionen übernommen hat, wie etwa die Evolèner Rinder aus dem Wallis. Fabienne und Lukas Buchli aus Scharans im Domleschg haben sich auf diese Urrinder ebenso spezialisiert wie auf die Aufzucht der ursprünglich aus Kroatien stammenden Turopolje-Schweine. Dankbarer Abnehmer für das aus­sergewöhnliche Fleisch ist heute der Bündner Starkoch Andreas Caminada. 

Kartoffeln Graubündeen

Kartoffelernte auf dem Hof Las Sorts von Sabina und Marcel Heinrich in Filisur.

​Koch trifft Bauer – und umgekehrt

Die Zusammenarbeit zwischen Produzenten und Köchen ist in den vergangenen Jahren zu einem wichtigen Mittel geworden, damit die Züchter, Landwirte oder Gemüsebauern auch bei den Konsumentinnen und Konsumenten bekannter werden und ihre Produkte neue Absatzkanäle erlangen. Köche wie Andreas Caminada, Hansjörg Ladurner vom Restaurant «Scalottas» in der Lenzerheide oder die nach Graubünden zurückge­kehrte Naturköchin Rebecca Clopath aus Lohn auf dem Schamser Berg sorgen dafür, dass ihre Produzenten eine Plattform erhalten, von den Medien entdeckt werden und so auch ein Gesicht bekommen. Kartoffelpionier Marcel Heinrich gehörte zu den ersten, die von dieser Entwicklung profitierten. «Ohne die Unterstützung der Köche, die sich für die unterschiedlichen Qualitäten der verschiedenen Kartoffelsorten zu interessieren begonnen haben, hätten wir am Markt nie diesen Erfolg haben können», sagt Heinrich. Die Profilierung der heimischen Gastronomie über lokale und regionale Produkte wiederum dürfte sich so wie etwa im Südtirol auch in Graubünden zu einem wichtigen und nachhaltigen Wert für die Gastronomie und die Hotellerie entwickeln.

Käse aus Andeer von Martin Biedert

Und doch noch Käse ...

Im historisch vorwiegend vom Fleischexport geprägten Bündnerland hat sich auch die Käsewirtschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine neue, über Jahrhunderte kaum vorhandene Posi­tion im Schweizer Käsemarkt erobert. Käser wie das Paar Martin Bienerth und Maria Meyer von der Sennerei Andeer, der Käsermeister Jürg Flükiger aus Splügen oder die Suferser Käser Dionis und Vreni Zinsli etwa gehören heute zu den bekannten Gesichtern der innovativen Schweizer Käsebranche ebenso wie die Mascarpin-Käserin Vreni Cadurisch aus Maloja. Mit der Wiederentdeckung der alten Traditionen wie dem Mascarpin oder Mascarpel, einem Vollmilch-Ziegenziger, haben Zinslis und Cadurisch einen Urkäse aus der Versenkung geholt, der heute zu den grossen Käsespezialitäten dieses Landes gehört. Cadurischs Ziegenziger etwa, den sie im Sommer in ihrer Kleinkäserei im idyllischen Isola am Silsersee von der Milch ihrer Ziegen herstellt, ist im Hochsommer oft schon am Mittag fast ausverkauft, da er frisch aus dem Käsekessel und noch lauwarm so wunderbar nach Vanille schmeckt, dass man ihn gar nicht erst einpacken lässt. Doch auch in reiferem Zustand – auch nach zwei- oder dreimonatiger Lagerung – passt er als Reibkäse etwa hervorragend zu einer Polenta, vor allem, wenn diese noch mit einem Gitzibraten serviert wird.

Schnaps und Co.

Von der Landschaft und vom Terroir Graubündens erzählen auch zahlreiche wiederentdeckte Tradi­tionen wie etwa der Schnaps aus den Wurzeln des Purpurenzians, die im Alpenraum einzig Gion Candinas noch in seiner Brennerei in Surrein in der Surselva brennt. Die Wurzeln des Purpur­enzians sind intensiver im Geschmack als jene seines weit bekannteren Artgenossen, des Gelben Enzians, des wichtigsten Enziangewächs, das im Alpenraum gebrannt wird. Ebenso einzigartig sind auch der Iva-Likör und der Iva-Schnaps, die heute wieder von einigen Produzenten mit dem Kraut der Moschus-Schafgarbe angesetzt werden, wie das über Jahrhunderte in Graubünden der Brauch war.
Wie Candinas haben auch andere Produzenten und Landwirte das Terroir wiederentdeckt. In der wilden und traumhaften Landschaft der Val Lumnezia etwa ernten Adolf und Margrit Hartmann Jahr für Jahr in einem fast einen Quadratkilometer grossen Sanddorngebiet die vitaminreichen und geschmackvollen Beeren dieser Pflanze, die viele nur noch als Zierpflanze aus den Vorgärten kennen. Eine Pflanze, die im gesamten eurasischen Raum verbreitet ist, aber nur selten ihren Weg auch in die Höhen des Alpenraums findet. Der Sanddorn gehört zur Familie der Ölweidenge­wächse. Man kennt ihn auch unter dem Namen Fasanenbeere oder Weidendorn. Die orangen, säurehaltigen Beeren werden von den Hartmanns zu ungesüsstem Sanddorn-Ursaft oder zu Sanddorn­sirup verarbeitet. In ihrem Heim in Trans, im kleinsten aller Domleschger Bergdörfer, produzieren die Hartmanns zudem auch Latwerge aus wildem Wacholder und Melissen-Hagebutten-Sirup. Ihre Produkte vertreibt das Ehepaar Hartmann insbesondere an viele langjährige Stammkunden und Sanddornliebhaber, in den vergangenen Jahren wurden sie von der Spitzengastronomie förmlich einverleibt: Kaum ein Sternekoch, bei dem Hartmanns Sanddornbeeren nicht auf der Karte zu finden sind.

Grauvieh

Einst fast ausgestorben, hat das Rätische Grauvieh Graubünden wieder erobert.

​Noch zu entdecken

Allerdings haben die Bauern, die Köche, die Bäcker, Brenner oder Metzger Graubündens noch längst nicht alle Schätze gehoben, die es noch zu entdecken gilt. Jährlich tauchen neue Produkte auf, die man selbst früher so nicht gekannt hat. So scheinen selbst die Blüten der Alpenrosen die Fantasien und die Innovation zu beflügeln: Vom Alpenrosenhonig bis hin zum Alpenrosensirup oder zum Alpenrosengelee reicht die Palette, selbst die Ginbrenner von Breil Pur aus Brigels verwenden die Blüten des Rhododendronpflänzchens für ihre hochprozentigen Gewürzbrände.
Mit der Wiederentdeckung alter Getreidesorten wie dem Dinkel, dem Emmer oder dem Einkorn, die zurzeit noch von wenigen Bauern angebaut werden, geht auch die weitere Entwicklung der eh schon grossen Brottradition Graubündens einher, wenn auch noch zaghaft. Hier liegt noch einiges an Potenzial brach. Gräbt man in alten Quellen, so wird einem die schier unendliche Vielfalt bewusst, die zu grossen Teilen noch vor sich hinschlummert. Allein die Namen, insbesondere die roma­nischen, dürften in den kommenden Jahren hoffentlich viele Bäcker dazu ermuntern, sich ihrer Geschichte wieder zu besinnen und sich so von den übermächtigen Grossverteilern abheben zu können. Denn wer könnte in der Bäckerei diesem lautmalerischen Gebäckreigen widerstehen, von dem uns heute noch alte Backbücher aus Graubünden erzählen: rasdüro, baschadélas, creschéints oder kraschantins, pawn nué oder strüzzels, pan cun fik oder panfört, pan da vilana, navét, padlàna, pretzlas oder barbulàda.

Weitere Infos

Autor
Dominik Flammer nennt sich «Foodscout» und ist in den Alpen – auch in Graubünden – unterwegs auf der Suche nach traditionellen Nahrungsmitteln. Er lebt in Zürich.
df@publichistory.ch 
Online
www.publichistory.ch 

Das kulinarische Erbe der Alpen

Der Autor dieses Textes hat ein faszinierendes und umfassendes Buch über das kulinarische Erbe der Alpen verfasst. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» meint schlicht: «Ein kulinarisches Werk, das zu den besten Büchern der letzten Jahre zählt. Ein Prachtband.»

«Das kulinarische Erbe der Alpen», Dominik Flammer und Sylvan Müller, AT-Verlag, Aarau, 2013, 368 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, CHF 98.–

www.at-verlag.ch