Ein unbeschreibliches Durcheinander

Der Lawinenniedergang von St. Antönien 1951
Am 20. Januar 1951 zerstörten mehrere Lawinen 42 Gebäude in St. Antönien und forderten ein Menschenleben. Das Unglück gab den Ausschlag für den Bau einer der grössten Lawinenverbauungen der Schweiz.
Text 
Holger Finze-Michaelsen
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zVg

St. Antönien am Abend des 20. Januar 1951: Würden in dieser Nacht die erwarteten schweren Lawinen losbrechen?
Die beiden Bewohner im Schryberschhus, ein Stück oberhalb vom Platz, legten sich zum Schlafen sicherheitshalber in den gemauerten Käsekeller, der in den Hang gebaut war. Auch andere Familien harrten im Keller aus. In einem alten Bauernhaus auf dem Meierhof, ein Stück taleinwärts, versammelte sich die sechsköpfige Familie mit dem Futterknecht in der Stube um den metallummantelten Ofen. Auf der gegenüberliegenden Talseite, auf dem Marschall in Ascharina, wollte man die Kinder nicht beunruhigen und schickte sie nach oben in ihre Betten. Es herrschte überall eine gespenstische Ruhe. Mit Lawinen war man hier zwar seit Jahrhunderten vertraut. Aber in dieser Nacht erwartete man besonders Schlimmes.
Ein Chronist berichtet: «Es schien ­einen recht leichten Winter zu geben, und auf einmal fing es an zu schneien, und zwar bei gleicher Temperatur während fünf Tagen, so dass viele Einwohner mit einer Katastrophe rechnen mussten – auch wenn an Fliehen nicht mehr zu denken war bei 2,5 Meter Neuschnee am Platz. Und o weh, um halb Zehn brachen die Lawinen in kurzen Zeitabständen los und fuhren mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit zu Tal und vernichteten so viel, dass ich fast nicht weiss, wo anfangen.»
 

Die Lawinen hatten freie Bahn

Der Schutzwald war nach jahrhundertelangem Raubbau stark dezimiert. Lawinenniedergänge hatten weitere Teile zerstört. Zwar waren bei etlichen Häuser nach dem Lawinenunglück von 1935, als sieben Tote zu beklagen gewesen waren, die Ebenhöchs verstärkt oder neu errichtet worden. Auch hatte man forstliche Massnahmen ergriffen. Trotzdem: Die Schneemassen hatten von der Südostflanke des 2412 Meter hohen Chüenihorns nahezu 1000 Höhenmeter freie Bahn auf die Häuser zu.
Dann geschah es. Familie Flütsch auf dem Meierhof – Eltern mit Zwillingen im Säuglingsalter auf dem Arm und zwei weiteren Kindern – hörte zunächst, wie die Steinwand über dem Ofen plötzlich einen Riss bekam, unmittelbar darauf ein ohrenbetäubender Lärm vom Bersten und Brechen. Das ganze Haus brach über ihnen zusammen. Die Tochter wurde von der aus den Angeln gehobenen Stubentür umgeworfen und bedeckt. Der Futterknecht hatte gerade noch vom Tisch aufspringen und in Ofennähe flüchten können. Dann bohrten die herunterbrechenden Oberdielen die Petrollampe ins Tischblatt. Wenige Augenblicke später völlige Stille, totale Finsternis. Der Vater fragte, ob alle am Leben seien. Sieben Menschen hatten in einem winzigen Loch von wenigen Quadratmetern, im Schutz des standhaften Ofens, überlebt. Ihre Hilferufe wurden von den herbeigeeilten Nachbarn zunächst nicht gehört. Niemand rechnete damit, noch Überlebende zu finden. Nach zwei Stunden wurden sie befreit. Man sprach von einem Wunder.
In einem nahen Haus wurden die beiden Schwestern Ladner mitsamt ihren Betten nach draussen geschleudert, konnten sich jedoch, nur wenig mit Schnee bedeckt, selbst herausarbeiten. Das Haus war völlig zerstört.
Sogar noch auf dem Marschall, wie gesagt auf der gegenüberliegenden Talseite, schlug die Lawine oben die Scheiben ein und füllte die Schlafkammer der aufgeschreckten Kinder mit Schnee. Der Jüngste wurde von seinen Geschwistern sofort ausgegraben.

 

42 Gebäude waren zerstört

Einzig ein Toter, der Futterknecht Jakob Caduff in einem weiteren Gebäude auf dem Meierhof, war zu beklagen. Aber die Zerstörung lässt sich nicht an der Anzahl Toter messen. 42 Gebäude, davon neun Wohnhäuser, wurden bis auf den Grund zerstört, weitere 25 waren teils schwer beschädigt. Viehwirtschaft war die Lebensgrundlage. 50 Stück Grossvieh kamen in den Ställen um, daneben ungezähltes Kleinvieh. Beim Häusergaden konnten am nächsten Tag bis auf zwei Jungrinder noch Kühe, Pferd und Schwein zwischen Schnee, Balken und Dielen lebendig ausge­graben werden. Ein Augenzeuge berichtet, dass dort, wo einst die Häuser gestanden hatten, nun «nichts anderes mehr ist als ein unbeschreibliches Durcheinander von Trümmern, Heu, Schnee, Möbeln, Geschirr, Matratzen, toten Tieren, Werkzeug, Kleidungsstücken, kurz allem, was im Haus und Stall einen Namen besitzt».
An Hilfe von auswärts fehlte es nicht. Militär wurde aufgeboten, Schüler der Evangelischen Mittelschule Schiers trafen ein. Ein Problem war der Zugang zum Tal. Noch zwei Wochen später war der Weg von Pany nach St. Antönien «ein Kanal im Schnee, gerade so breit, dass ein Pferd durchkommen kann», berichtete eine Zeitung.

 

19 Tote in Vals

Grosse Hilfe für den Wiederaufbau ­be­deutete eine nationale Gabensammlung für die Lawinengeschädigten. St. Antönien war ja nicht das einzige betroffene Dorf, auch wenn hier schweizweit die meisten Gebäude zerstört worden waren. Fast auf die Minute genau zur gleichen Zeit wurden in Vals 30 Menschen verschüttet, 19 von ihnen konnten nur tot geborgen werden, darunter ein Elternpaar mit ihren fünf Kindern. In Davos (Monstein-Station und Dischma), Safien (Neukirch) und Zuoz starben je fünf Menschen, in Klosters zwei. In Zernez (Val da Barcil) wurden sechs Rettungskräfte von einer Nachlawine getötet.
Bereits 1935 war die Frage dringlich geworden, wie das Dorf künftig geschützt werden könne. Viele Einheimische schworen auf die Ebenhöchs als einzige Möglichkeit. Verbauungen stand man kritisch gegenüber, insbesondere wegen der unabschätzbaren Kosten. 1951 stellte sich die Frage erneut. Es kam der Vorschlag auf, alle hochgradig gefährdeten Heimstätten, insbesondere in Castels, aufzugeben und ein neues Dorf auf ­Luzeiner Gebiet zu errichten. Mit der Verwerfung dieser Variante wurde die Weiche gestellt und entschieden, ein Lawinenverbauungsprojekt in Angriff zu nehmen. Unterstützung kam auch aus Bern. Bereits 1948 hatte Bundesrat Philipp Etter das Hochtal besucht und gemeint, ein Dorf an der Landesgrenze dürfe allein schon aus geostrategischen Gründen nicht der Entvölkerung preisgegeben werden. Er war es denn auch, der die Finanzierung des Verbauungsprojekts beim National- und Bundesrat vorantrieb. Vor Ort jedoch war dies der Castelser Gemeindepräsident und Land­ammann Peter Flütsch, der sich unermüdlich für sein Tal einsetzte und als eigentlicher Initiator des Jahrhundertbauwerks gilt.
1953 begannen die Arbeiten mit dem Bau einer acht Kilometer langen Erschliessungsstrasse. Bis 1978 entstand mit über zwölf Laufkilometern eine der grössten zusammenhängenden Lawi­nenverbauungen der Schweiz. Gewal­tige Zahlen: 4177 vier Meter hohe, kamm­artige Stützen mit 21 153 dort ein­gelegten Querbalken aus Beton, die allesamt vorgespannt per Bahn von Adliswil nach Küblis und von dort mit Transportern 18 Kilometer weit zum Chüenihorn und dem benachbarten Tschattschuggen hinaufgebracht wurden. Beton als Werkstoff der mächtigen Auffangstreben erwies sich jedoch später wegen fortschreitender Korrosion als ungeeignet. Die St. Antönier Lawinenverbauungen sind darum – jedenfalls ausserhalb der Wintermonate – ­eine ewige Baustelle. Seit 1993 werden die Betonelemente sukzessive durch Stahlkonstruktionen mit aufmontiertem Flechtwerk ersetzt. Nicht zu vergessen sind Baumsetzlinge (eine halbe Million), die gepflanzt wurden und unterdessen einen hochgewachsenen Waldgürtel am Hang bilden.
Seit Beginn der Aufzeichnungen 1668 verloren im Tal unzählige Familien durch Lawinen Häuser, Ställe, Vieh und ganzen Besitz. 55 Menschen ­kamen ums Leben. Seit Vollendung des Lawinenprojekts 1977 gab es kein einziges Todesopfer mehr. Zum letzten Mal ausserordentlich gefährdet war das Tal im Winter 1999, als es rekordhohe Niederschläge im gesamten ­Alpenraum gegeben hatte. Oben am Chüenihorn schätzte man die Höhe auf 5,70 Meter. Alle Verbauungen waren überschneit, unterhalb der Werke brachen Schneebrettlawinen ab. Nebst den Verbauungen bildete der Schutzwald nun die Rettung für viele Heimwesen.
Lawinenniedergänge jedoch gehören immer noch zur Lebenswelt in diesem Hochtal. «Dann müssen die Bewohner solcher Gebiete den notwendigen Respekt gegenüber den Naturgewalten aufbringen», sagt Christian Kasper, Gemeindepräsident von Luzein, wozu St. Antönien seit 2016 gehört. «Denn einen hundertprozentigen Schutz wird es nie geben.»

 

Weitere Infos

Autor Holger Finze-Michaelsen ist Pfarrer und Buchautor. Im Herbst 2020 erschien eine Neuauflage seines Buchs «Die Geschichte der St. Antönier Lawinen» bei der Buchdruckerei Landquart. Er lebt in Igis.