Vrin gilt als Musterdorf - doch die Zukunft ist fraglich (Foto Ralf Feiner)
Von den vielen Besuchern Graubündens bestaunen die einen die Berge und Landschaften, andere die Skipisten. Doch daneben gibt es aber die Bündner, die in Graubünden arbeiten, seien es Landwirte, Arbeiter, Unternehmer, Industrielle oder Dienstleister (Frauen selbstverständlich miteingeschlossen). Sie alle arbeiten um Erwerb und Einkommen. Für sie ist die Landschaft aber oft auch ihr Problem: Steile Täler, lange Zufahrten, lange und oft harte Winter mit Naturgefahren bilden Wettbewerbsnachteile. Die geografische Lage Graubündens bildet wohl die Grundlage für den Tourismus, fordert jedoch von der Wirtschaft stets grösste Anpassungen, um im Wettbewerb bestehen zu können. So ist es heute, so war es, seit wir die Wirtschaftsgeschichte kennen. Darauf haben die Menschen Graubündens in allen Zeiten reagieren müssen. So erklärt sich das wirtschaftliche Erscheinungsbild Graubündens im Zeitablauf. Erst nach 1880 entstanden innerhalb des Kantons Arbeitsmöglichkeiten, ab 1950 namentlich im Baugewerbe, im Tourismus und zunehmend auch im Dienstleistungsbereich.
Im Vergleich zur Schweiz zeigen die Statistiken und Analysen immer wieder das gleiche Bild: Eine geringe Zahl an Arbeitslosen, doch das Bruttosozialprodukt pro Kopf und die Wachstumsraten liegen im hinteren Drittel der Kantone. Das hat mit der einseitigen Wirtschaftsstruktur zu tun. Das grosse Baugewerbe und der verbreitete Tourismus sind zwei Branchen mit relativ vielen unqualifizierten Beschäftigten.
Die Erfahrung zeigt auch, dass innovative neue Unternehmungen sich fast immer in den periurbanen Räumen ansiedeln. Damit gelangen wir zu den unterschiedlichen Raumtypen innerhalb des Kantons Graubünden.
Splügen gehört zu den länfdlich-peripheren Räumen
In den Berichten des Bundes werden neuerdings drei Raumtypen unterschieden, nämlich
• urbane periphere Räume
• ländlich periphere Räume
• touristische Zentren
Für den Kenner Graubündens ist es leicht, sich eine entsprechende Karte vor Augen zu führen: Zum urbanen peripheren Raum gehört das Rheintal von Fläsch bzw. vom vorderen Prättigau bis hinter Ems bzw. Bonaduz. Zu den touristischen Zentren gehören bekanntlich das Oberengadin, Davos/Klosters, Arosa und Flims/Laax. Dann bleiben die ländlich peripheren Räume übrig, nämlich das mittlere Prättigau, das Unterengadin, Mittelbünden, die Region Viamala und die Surselva. Doch innerhalb dieser ländlichen Raumtypen gibt es die kleinen Zentren wie Thusis, Ilanz und Scuol, in denen nach und nach alle Dienstleistungen aufgebaut wurden (Geschäfte, Schulen, Spitäler, Arztpraxen, Advokaturen usw.) Diese dezentralen Kleinzentren bieten auch viele Arbeitsstellen für die peripheren und Terrassendörfer an. Doch selbst innerhalb dieser Täler geht eine Konzentration vor sich. Während in Disentis die Zahl der Arbeitsstellen über Jahre abnahm, legte jene in Ilanz zu. Kleine Dörfer in der Umgebung der Kleinzentren wurden zunehmend zu Pendlerdörfern. Natürlich gibt es auch dort Zweitwohnungen. Die Bevölkerung ist tendenziell schrumpfend, es sei denn, sie wird durch Pendler stabilisiert. Bei Fusionen treten diese Gemeinden jedoch unter einer neuen Statistik auf. Zur Konkretisierung des eben Gesagten dient ein vergleichender Hinweis auf die drei Gemeinden Ilanz, Vrin und Vals. Ilanz ist das wachsende Kleinzentrum; Vrin ist ein agrarisches Dorf ohne private Investitionen. Die abnehmende Zahl an Landwirten wurde nicht kompensiert. Die Bevölkerung liegt bei rund 250. Vals dagegen hat mit dem Valser Wasser, den Steinbrüchen und dem Hotel Therme immer neue Arbeitsplätze geschaffen und konnte bis heute die rund 1000 Einwohner halten.
Gemeindeanalysen liefern eine ernüchternde Theorie. Sie besagt: Was immer in Landwirtschaft, Gewerbe und Dienstleistungen, inkl. Tourismus, in diesen Dörfern privat produziert wird, davon muss ein übergrosser Teil exportiert werden können, um zu überleben. Nur die lokale bzw. regionale Nachfrage ist immer zu klein, um ein Unternehmen rentabel zu betreiben. Auf dieser hier kurzgefassten Erkenntnis basiert auch die neue Regionalpolitik für private Unternehmen, die sogenannte Exportstrategie. Es gibt hierfür einige gute Beispiele ausserordentlich tüchtiger Kleinunternehmer, die Produkte an nationale und internationale Märkte liefern.
Vals hat dank Wasserkraft und Therme eine stabile Bevölkerung
Vor bald zehn Jahren haben ETH-Architekturprofessoren vom ETH-Studio Basel den Begriff «alpine Brache» erfunden: Dies in einer vierbändigen, gefälligen und stark bebilderten Publikation mit dem Titel: «Die Schweiz – ein städtebauliches Porträt (2005)». Darin sind auf einer Schweizer Karte die städtischen Zentren, die grossen Tourismusorte und der Rest als «alpine Brache» je einheitlich eingefärbt, über alle Alpen und Gletscher hinweg. Den Dörfern in der «Brache» wird unterstellt, sie würden weiterhin schrumpfen. Weil die Studie so medienwirksam daherkam, gab es heftige Reaktionen, die zum Teil einen antiwissenschaftlichen Zug hatten. Die Studie war ansprechend, aber nicht lösungsorientiert. Denn wie oben erwähnt, war längst bekannt, dass periphere Dörfer zum Teil abnehmende Einwohnerzahlen hatten. Mit regionalwissenschaftlichen Studien suchte man immer schon die geeignetste Unterstützung für diese Dorftypen. Die Regional- und Agrarpolitik hatten dort längst angesetzt. Die Kulturlandschaft wird bewirtschaftet, viele kleinere Gewerbebetriebe existieren weiter und vielerorts gibt es auch kleinere Wintersportanlagen. Und Tagespendler bilden oft das Rückgrat für überlebensfähige Dörfer. Doch es wird weiterhin einige schrumpfende Dörfer geben.
Im Münstertal/Müstair ist der Bevölkerungsdruck bzw. die Abwanderung bedrohlich. (Foto: swiss-image/Franziska Pfenniger)
Es gibt einen ganz neuen Bericht als Antwort auf die Motion Maissen zuhanden des Bundesrats für die Erarbeitung einer umfassenden Politik für die ländlichen Räume und Berggebiete. Interessant schon die Einleitung des Berichts: «Die gesellschaftliche Kohäsion wird gestärkt und gemeinsame Werte werden gefördert.» Dann folgt eine Vision für eine nachhaltige Entwicklung: «Die Berggebiete leisten in ihrer Vielfalt und ihren spezifischen Potenzialen einen wichtigen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung der Schweiz.» Und weiter: Es bestünden «langfristige Entwicklungsperspektiven bei gesicherter Qualität der Erholungsgebiete und Naturräume bei gleichzeitiger Nutzung der funktionalen Beziehungen mit den Agglomerationen». Ferner: «Innovative Unternehmer sind in der Lage (…) zukunftsorientierte Antworten auf die wirtschaftlichen, sozialen und umweltbezogenen Herausforderungen zu entwickeln.» Dann werden zur Verwirklichung dieser Vision langfristige Ziele formuliert zu: attraktives Lebensumfeld, natürliche Ressourcen sichern und in Wert setzen, Stärken der Wettbewerbsfähigkeit und kulturelle Vielfalt. Nach der Lektüre ist man ermutigt: Es wird besser koordiniert, keine Leerläufe mehr, Ökonomie (Unternehmen) und Ökologie (Umwelt- und Naturschutz) kommen ins Gleichgewicht. Man kann diesen Aussichten nur viel Erfolg wünschen. Doch meine Abschlusszeilen sollen wieder näher an die Realität heranrücken.
Bei heutigen wirtschaftlichen und demografischen Entwicklungen wird es weiterhin wachsende und einige langsam schrumpfende Dörfer geben. Schrumpfende Dörfer werden jedoch durch Gemeindefusionen und wegen besserer Mobilität und mehr Tagespendlern vermehrt mit den regionalen Zentren verbunden sein. Das soziale Leben und die dörfliche Kultur werden so die nötige wirtschaftliche Basis haben. Es werden aber nur jene Orte funktionsfähig bleiben, die neben Agrarprodukten, lokalen Handwerks- und Dienstleistungen auch nach aussen verkäufliche Produkte bzw. Tourismusleistungen anbieten können.