Der Forschungsleiter des Projektes am Calanda, Jake Alexander. (Foto: ETH Zürich)
Mit seinen Höhenstufen auf nur rund fünf Kilometer Luftlinie beherbergt der Calanda eine äusserst reiche Vielfalt an Arten. Am Calanda finden sich alle Vegetationsstufen vom Talboden bis zur subalpinen Stufe auf dem 2800 Meter hohen Gipfel. Entsprechend gibt es auch verschiedene Klimastufen. «Die grösste Artenvielfalt würde man eigentlich in niedrigster Stufe finden», erklärt Marylaure de La Harpe, zuständig für Botanischen Artenschutz beim Amt für Natur und Umwelt (ANU). «Die Vegetation fand in den unterschiedlichen Lebensräumen günstige Bedingungen vor. Sie entwickelte sich deshalb sehr artenreich. Im Laufe der Jahre spezialisierten sich Arten sogar auf bestimmte Habitate.»
Durch die extensive Bewirtschaftung und die damit entstandenen mosaikartigen Lebensräume wie Wiesen, Hecken und Wälder an den Südhängen des Calanda konnten sich spezialisierte Arten entwickeln, die in trockenen Gebieten überleben können. Solche mediterrane Arten findet man zum Beispiel auch im Domleschg und im Engadin. Wichtig sind dabei ihre Habitate, in diesen Fall die Trockenwiesen und -weiden (schweizweit als TWW bezeichnet). Die TWW sind wertvolle Lebensräume und aufgrund ihrer Biodiversität Gegenstand von Pflege und Erhaltung im Rahmen von Verträgen mit den Eigentümern wie Gemeinden, Landwirten und Privaten. Bisher konnte die Artenvielfalt am Calanda dank der Pflegeleistungen der Bewirtschaftenden erhalten werden. Eine Besonderheit am Calanda sind zum Beispiel die zahlreichen Orchideenarten auf den mageren Wiesen. Ihre Bestäubung hängt von Insekten ab, die in den letzten Jahren massiv zurückgegangen sind. So ist zum Beispiel die Gewöhnliche Spinnen-Ragwurz, die schweizweit sehr selten und stark gefährdet ist, hier noch zu finden. «Ihr Vorkommen beweist die gute Qualität des Lebensraums und die noch relativ hohe Artenvielfalt», erklärt Marylaure de La Harpe weiter.
Veränderte Vegetationsperioden
Die Erwärmung des Klimas betrifft die Alpenpflanzen stark. Die Durchschnittstemperaturen steigen, extreme Trockenheit und höhere Niederschlagsmengen haben ihre Auswirkungen. Die Länge der Vegetationsperiode, also die Zeit, welche die Pflanzen haben, um wachsen zu können und ihre Samen zu bilden, hängt vom Schneefall und den Temperaturen ab. Sie werden damit umgehen müssen, dass in manchen Jahren der Schnee sehr früh schmilzt und in anderen Jahren sehr spät. Das heisst für sie unterschiedlich lange Vegetationsperioden. Mit den erhöhten Temperaturen können sich die klimatischen Nischen von Pflanzen nach oben verschieben. Mit der Erwärmung wechseln sie an höher gelegene Standorte. Das ergibt eine Konkurrenzsituation zwischen den Arten.
Neue Konkurrenz
Am Calanda untersucht die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH) seit dem Jahr 2008 die Fähigkeit von Pflanzen, sich an das Klima anzupassen. Untersucht wurde im Laufe der Jahre, wie Pflanzenarten und Pflanzengemeinschaften auf Klimaveränderungen reagieren. Aktuell wird die Fähigkeit von Pflanzenarten untersucht, ihre Verbreitungsgebiete aufgrund des Klimawandels auszudehnen. «Der Calanda ist ein perfektes ‹Outdoor-Labor› für solche Forschung», erklärt der Forschungsleiter des Projektes der ETH, Jake Alexander. «Die Biodiversität am Calanda ist beeindruckend hoch», bestätigt auch er. «Ebenso sind die Pflanzengemeinschaften sehr artenreich. Dadurch ist das Wechselspiel zwischen den Arten wiederum sehr komplex.» Dieses Jahr wurden mehrere Hundert Vegetationserhebungen durchgeführt. Das Forschungsteam hofft, mit den durchgeführten Experimenten tiefere Einblicke in das Ökosystemgefüge zu gewinnen und diese über einen längeren Zeitraum verfolgen zu können. «Dies ermöglicht uns, das Ökosystem in seiner Funktionsweise besser zu verstehen und dessen langfristige Reaktionen auf eine sich ändernde Umwelt zu untersuchen», so Jake Alexander.
Gewinner und Verlierer
Das Ziel der ETH-Forschung es ist, zu verstehen, wie die Biodiversität in Bergregionen auf den Klimawandel reagiert. «Wir möchten die ökologischen Mechanismen, welche die Pflanzengemeinschaften beeinflussen, besser verstehen. So hoffen wir, mögliche Auswirkungen von Umweltveränderungen – insbesondere des Klimawandels – auf diverse Pflanzengemeinschaften besser vorhersagen zu können.»
Ebenfalls ein wichtiges Forschungsziel ist die Identifikation von sogenannten «Gewinnern» und «Verlierern» des Klimawandels. Es wurde festgestellt, dass Arten, die verschwenderisch mit Wasser umgehen, bei experimenteller Erwärmung seltener vorkommen. Allgemein wird erwartet, dass Arten, die in ihrem Lebensraum sehr spezialisiert sind oder ein eingeschränktes Verbreitungsgebiet haben, empfindlich auf Umweltveränderungen reagieren. Es gibt immer auch Arten, die mit der Erwärmung gut zurechtkommen, zum Beispiel durch eine effiziente Wassernutzung.
Bisherige Erkenntnisse
Eine wichtige Erkenntnis sei, dass die Reaktionen von Arten auf den Klimawandel oft von den Wechselwirkungen zwischen den Arten abhängen würden, erklärt Jake Alexander. «Dies erklärt teilweise, warum Arten sehr unterschiedlich auf den Klimawandel reagieren.» Es zeige aber auch, dass es nötig sei, das Ökosystem in seiner ganzen Komplexität zu untersuchen, um bessere Vorhersagen treffen zu können. Dazu hat das ETH-Forschungsteam ganze Pflanzengemeinschaften aus 2000 m ü.M. in ein wärmeres Klima versetzt. Mehrere ein Quadratmeter grosse Grasnarben wurden auf 1400 m ü.M. verpflanzt. Die Ergebnisse zeigten, dass die meisten Fokusarten mit dem neuen Klima zurechtkamen, wenn sie zusammen mit ihren ursprünglichen Pflanzengemeinschaften wuchsen. Im Gegensatz dazu war ihre Leistung im Zusammenleben mit ihnen unbekannten Arten deutlich reduziert. «Diese Studie hat gezeigt, dass der Klimawandel nicht nur direkt auf Pflanzenarten wirkt, sondern indirekt auch die Wechselwirkungen zwischen den Arten verändert», hält Jake Alexander fest. Aktuell ist das Forschungsteam daran, die Daten des neuen Experiments zur Ausdehnung des Verbreitungsgebietes von Tiefland-Arten zu analysieren. Die vorläufigen Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Interaktionen zwischen den Arten auch einen Einfluss darauf haben, wie schnell Pflanzen aus tieferen Höhenlagen sich in höher gelegenen Gemeinschaften etablieren können, so Jake Alexander.
Auch bei Huftierarten sichtbar
Und welche Beobachtungen gibt es bezüglich Klimaerwärmung in der Fauna? Ein Beitrag in der «Naturwissenschaftlichen Rundschau» im Jahr 2018, unter anderen erarbeitet von Hannes Jenny vom Amt für Jagd und Fischerei des Kantons Graubünden, zu den Wildtierbeständen hilft weiter. Die seit Jahren ohne Unterbrechung durchgeführte Überwachung liefert präzise Informationen über Abschüsse der vier häufigsten Huftierarten Steinbock, Gams, Rothirsch und Reh. Neben jagdlich und wildtierbiologisch relevanten Details wurden Zeitpunkt, Ort, Grösse und Gewicht für jeden Abschuss zwischen 1991 und 2013 aufgenommen. Dieser Datensatz ermöglicht es, saisonale Verhaltensmuster abzuleiten. Dazu werden Abschusshöhen unter anderem auch mit meteorologischen Messungen und biotischen und abiotischen Umweltparametern aus der Region in Beziehung gesetzt. Festgestellt wurde: «Die mittleren Abschusshöhen schwankten zwar stark von Jahr zu Jahr, doch liess sich zwischen 1991 und 2013 ein kontinuierlicher Anstieg feststellen. Für alle vier Arten lag die durchschnittliche Abschusshöhe vor dem Jahr 2002 unterhalb derer nach 2002.»
Die Ergebnisse würden mit unabhängigen Beobachtungen von nichtbejagten Steinbock- und Gamspopulationen im Schweizer Nationalpark sowie mit zahlreichen Studien zu klimabedingten Veränderungen in der räumlichen Verbreitung unterschiedlicher Arten übereinstimmen, hielten die Autoren des Berichtes fest. Das heisst, auf der Nordhalbkugel reagieren viele Arten auf die steigenden Durchschnittstemperaturen mit einer saisonalen oder generellen Verschiebung ihrer Habitate in nördlichere und/oder höhere Zonen. Wobei, auch da sind sich die Autoren einig, weitere Faktoren, wie zum Beispiel die Schneebedeckung und die Länge der Vegetationsperioden oder die kurz- bis mittelfristigen Schwankungen in den herbstlichen Abschlusshöhen zu berücksichtigen seien. Aber: «Der Zusammenhang zwischen Temperatur und Abschusshöhe ist evident und darf als gesichert angesehen werden.»nd die weitere Strecke nach Muot, von wo der Bernina-Express angekündigt ist. Und tatsächlich fährt just in diesem Moment ein Zug heran. Wir winken uns zu.
Am Calanda untersucht die ETH Zürich seit dem Jahr 2008 die Fähigkeit von Pflanzen, sich an das Klima anzupassen.
Die Forschenden verpflanzen Grasnarben in andere Höhenstufen. (Fotos: ETH Zürich)