Matias Spescha in Sigean, 1990er-Jahre. (Foto: Jean-Pierre Kuhn)
«Im Grunde wäre die höchste Stufe der Kunst erreicht, wenn dort, wo ich war, mein Werk zurückbliebe, wenn ich weggehe», soll Matias Spescha 2006 gesagt haben, und man kann sich denken, dass er oft so gesprochen hat: bescheiden im Ton, doch im Bewusstsein einer grösseren Bedeutung. Ganz ähnlich nämlich klingen seine Worte über den Künstler, die Kunst und den Betrachter: «Was der Künstler auf seinem Weg hinterlässt, sind Zeichen und Spuren, die in sich den Keim des Unbekannten, Weitentfernten der Kunst tragen. Es wäre schon viel erreicht, wenn das in meiner Arbeit spürbar wäre.»
Nun ist sein Werk zurückgekehrt, und zwar fast dorthin, wo alles begann. In diesem Sommer wurde in einer Trunser Industriehalle eine Ausstellung unter dem Titel «Matias Spescha. Retuorn a Trun – retuorn a casa» eröffnet. Trun ist der Ort, wo er aufwuchs, und die Tuchfabrik, in der er seine Lehre und die ersten Arbeitsjahre verbrachte, liegt gleich neben dem neuen «Spazi Spescha». Hier, so sei versprochen, lässt sich diesem «Keim des Unbekannten, Weitentfernten der Kunst» auf die Spur kommen.
Installationsansicht «Matias Spescha. Retuorn a Trun – Retuorn a Casa». (Foto: Ralph Feiner)
Aber zunächst ein wenig mehr Biografisches. Spescha wurde 1925 als ältester Sohn einer nicht gerade vermögenden Familie geboren, zeitweise lebte man im heutigen Cuort Ligia Grischa, wo das Ortsmuseum zu finden ist. Der Vater, ein gelernter Schuster, amtete dort nach seiner Pensionierung als Abwart. Schon im Bubenalter arbeitete Matias als Knecht bei einem Bauern in Brigels, nach dem Schulabschluss trat er in die Fussstapfen des Vaters und machte eine Lehre in der Tuchfabrik, wurde sogar Abteilungsleiter. Zehn Jahre lang unterstützte er so die siebenköpfige Familie.
Schon früh begann er mit ersten zeichnerischen Versuchen, angespornt von Alois Carigiet, seinem 23 Jahre älteren Mentor. Dieser war es auch, der ihm den Weg nach Zürich wies, wo Spescha ab 1950 im Kino Corso als Plakatmaler wirkte. Seine Aufgabe war es, auf fünf Meter hohen und drei Meter breiten Stoffbahnen mittels eines Projektors Filmszenen zu übertragen. Daneben malte er in Öl, inspiriert von Georges Braque und Henri Matisse, später folgten Selbstbildnisse in der Manier von Paul Cézanne, auch sachte Abstraktionen, wie eine in Dreiecke zerstückelte Ansicht von Trun. Ernst Morgenthaler, der Zürcher Künstler und Grafiker, soll dazu gemeint haben: «Spescha kennt das Alphabet, aber kann noch nicht schreiben damit.» Es wäre an der Zeit, nach Paris zu gehen, liess er dem jungen Bündner ausrichten.
Was Spescha 1955 tat. Er besuchte die Kunstakademie Grande Chaumière, doch der Unterricht interessierte ihn bald weniger als das Arbeiten im Atelier. Im Grunde blieb er zeitlebens Autodidakt.
Matias Spescha, Ohne Titel, Acryl auf Karton, 120 x 100 cm. (Foto: zVg)
Paris war in dieser Zeit voll von rauchenden Existenzialisten und kränkelnden Künstlerseelen. Spescha blieb aussen vor, auch wenn er sich zeitgemäss mit Regenmantel und Hut kleidete. Alberto Giacometti, den er im Café erkannte, soll er nicht einmal angesprochen haben. Es war ihm unbehaglich in der grossen Stadt, und statt sich in der Pariser Kunstszene beliebt zu machen, bestritt er die erste Ausstellung in der Schweiz.
Der Umzug nach Bages 1958 war deshalb kaum ein Verlust für Spescha, sondern vielmehr finanziell eine Entlastung. 2000 Francs kostete ihn das Haus im südfranzösischen Fischerdörfchen unweit von Narbonne, und er zimmerte sich sein Atelier selbst, was dem Künstler von den Dorfbewohnern eine gewisse Anerkennung eintrug.
Bages sollte bis an sein Ende der eine Pol seines Lebens bleiben, der andere war Trun (und Zürich). In der ein halbes Jahrhundert umfassenden Schaffenszeit entwickelte Spescha eine Bild- und Formensprache, die ihm eine Einladung an die Biennale de São Paulo und die meisten Kunstmuseen der Schweiz verschaffte und sich in zahlreichen Bauten für den öffentlichen Raum verwirklichte. Eine Sprache, die ihn für viele zu einem der bedeutendsten Künstler der Schweiz im 20. Jahrhundert machte. Jedoch kann man sich vorstellen, dass er von solchen Zuschreibungen nicht viel hielt. «Es wäre schon viel erreicht», würde er vielleicht sagen, «wenn man sich einfach nur die Werke ansieht.»
Matias Spescha, Ohne Titel, Acryl auf Jute, 185 x 270 cm. (Foto: zVg)
Was man, wie gesagt, in Trun tun kann. Böse Zungen sagen: «Hat man einen Spescha gesehen, hat man alle gesehen.» Tatsächlich sind sie leicht zu erkennen: grosse, monotone, meist schwarz, grau oder ockerfarbene Flächen, abgerundete Ecken, gerade Linien. Spescha verwendete ein begrenztes Vokabular an Formen und Farben, er hielt dieses gar als Linolschnitt unter dem Titel «Alphabeth poétique» fest (1979). Er hatte sein eigenes Zeichenarsenal entwickelt und schrieb fortan damit.
Mit Speschas Werk ist es also wie mit Literatur: Nur weil man die Buchstaben und Worte schon einmal gelesen hat, heisst das nicht, dass man ihnen nicht immer wieder Neues entlocken kann. Auch wenn es nur Ahnungen sind.
In Trun ist nun 15 Jahre nach dem Tod des Künstlers und zehn Jahre nach der Eröffnung seiner Grossplastik «Ogna» der Nachlass Speschas versammelt. Möglich wurde das durch eine Schenkung der Erben Speschas, die rund 1000 Werke der Stiftung Ogna überliessen. Der Verein Trun cultura hat dafür mit der ehemaligen Industriehalle – instand gestellt vom Architektenduo Gasser/Derungs – einen angemessenen Ort gefunden: Fast 1000 Quadratmeter gross und mit wenigen Stützen, das Tageslicht dringt auf drei Seiten herein, die Böden sind rau.
Die Ausstellung fokussiert auf das Spätwerk der 1980er- bis 2000er-Jahre, als Spescha, so Kurator Peter Fischer, sein Alphabet zur Meisterschaft perfektioniert hatte. Zudem waren die meisten dieser Werke – darunter auch Skulpturen, die Spescha ab den 70er-Jahren schuf – in der Schweiz bislang noch nie zu sehen, waren sie zuvor doch in Südfrankreich eingelagert. Darunter der «Paravent» von 2008, eine Installation auf sieben Isolationsplatten, die somit 14 Bilder ergeben, die man sich nur bewegend, sich annähernd und perspektivisch verschiebend ansehen kann. Ein Werk, das viel davon erzählt, wie Speschas Kunst begriffen werden kann, nämlich weniger als Bild, schon gar nicht als Abbild oder Stellvertreter, sondern als Objekt selbst – eine Fläche ist eine Fläche, eine Linie eine Linie, und sie sind ohne Zusammenspiel von Leinwand und Raum ohne Wirkung.
Speschas Interesse galt dem Raum, den er in zwei Dimensionen aufspannte, oftmals auch als Environment, mit Flächen, deren Schwarz geradezu lebendig wird, das Weiss durchscheinend, ätherisch. Und allen Tönen dazwischen. Geradezu monumental ist das unbetitelte Triptychon von 2,7 auf 10 Meter. Wo eine Ordnung ist, sucht man gern nach einer Bedeutung, doch damit kommt man auch hier nicht weit. Man kann sich zwar am Spitznamen orientieren, der Spescha dem Werk gegeben hat («Guernica», nach Picassos Meisterwerk), aber das lenkt eigentlich nur ab. Stattdessen kann man sich auch einfach der Präsenz aussetzen, die dieses grosse strukturierte Dunkel ausstrahlt.
Man könnte glatt in metaphysische Schwärmereien verfallen, und tatsächlich wünscht man sich, hier einfach zur Ruhe kommen zu dürfen und sich in die Stille und Tiefe der Bilder zu versenken. Vermutlich wäre das Spescha nicht unrecht gewesen.