Muraglia – Frontiera, Performance am 17. Juni 2018 in Castasegna. Seinen Körper setzt Piero Del Bondio als lebende Skulptur ein. (Foto: Ralph Feiner)
Wenig Leute im Zug und im Postauto, geschlossene Hotels und Restaurants, stille Landschaft am Ziel der Reise – eindeutig Zwischensaison. Man spürt und hört kein menschliches Zeichen. Es ist kalt und nass. Am unteren Dorfrand ist ein grösserer Platz vor dem hohen Haus aus Stein. Piero Del Bondio begrüsst mich bereits an der Haustüre. Die wohltuende Behaglichkeit beginnt in der kleinen warmen Küche. Der Künstler führt im Schutz der dicken Hauswände sein verborgenes, tätiges Leben.
Stele aus dünnen, aufeinandergelegten Tagebuchblättern zwischen Holzklötzen.
Piero Del Bondio, sein Bruder und seine Cousine haben im Haus der Vorfahren ihre Wohnungen. Im Haus ist es still geworden. Früher gab es eine Schreinerei, eine Gaststube, einen Laden und das Schulzimmer der Sekundarschule. Da keine Zentralheizung vorhanden ist, liegen auf den Türschwellen der geheizten Räume gestopfte Stoffrollen, damit die Wärme nicht verloren geht. Die Einrichtung ist einfach, jeder Gegenstand wurde vielfach gebraucht. Konsum und Verschwendung haben hier keinen Raum. Piero hat sich mit der Anfertigung einer Liste gut auf meinen Besuch vorbereitet und mit je einem nummerierten Blatt Papier angezeigt, was er mir an diesem Nachmittag zeigen möchte. Gemeinsam folgen wir dieser Spur. Es ist ein ungewöhnlicher Spaziergang vom Keller über die Steintreppen, vorbei an Skulpturen in den Fensternischen wie an einer grossformatigen Fotografie von Mahatma Gandhi bis hinauf ins Dachgeschoss. Die Wanderung geht von der Gegenwart zurück in die Kindheit.
Da das Haus an den Abhang gebaut ist, dringt auch im Werkstattatelier ganz unten Tageslicht herein. Eine Kartonrolle bildet den Kern einer Stele, die mit unzähligen Schichten von Zeichnungen auf dünnem Zeitungspapier umwickelt ist. Die Säule wurde mit Teer bestrichen. Dieser fixierte und verschloss so die beschrifteten oder bemalten Blätter, Pieros Tagebuch eines vollen Jahres. Er führte so das Ganze sowohl zurück als auch in einer anderen Form zu einem neuen, ausdrucksstarken Objekt. Er verbarg seine Gedanken, die er mit Stift und Pinsel einmal festgehalten hatte. Eine andere festumwickelte Rolle setzte er im Freien dem Wetter aus. Wie Baumrinde haben sich Schichten gelöst, sodass sich das Innere teilweise entblösst hat. Eine weitere Säule besteht aus einem Turm von Blättern zwischen zwei Holzklötzen. In einem Sack bewahrt er zerkrümelte Zeichnungen auf, die er für eine Performance verwenden konnte. Satt geschnürte Papierpakete liegen als Objekte auf Regalen. Es gehört zu Pieros Weltbezogenheit, dass wenn sich etwas aufhebt, es erst zu leben beginnt. Das Geheimnis der Vergänglichkeit begleitet ihn.
Zerkrümelte Zeichnungen lagern in einem Sack. Sie wurden für eine Performance verwendet.
Es gab ein Jahr, da der Künstler sich intensiv mit dem Pinselstrich befasste. Der dicke Pinsel wurde einmal täglich in schwarze Tusche getaucht und nach einer Meditationsphase auf Papier gebracht. Mit der Performance in der Galerie von Liliana Brosi in Chur vermochte Del Bondio ein grosses Publikum in den Bann zu ziehen. Der Anlass bedeutete in den 90er-Jahren für viele Kunstliebhaber etwas Neues. Schlichtheit, Konzentration, Langsamkeit, Körpereinsatz und dann die rasche gezielte Spur des Pinsels auf dem Papier wiesen hin in eine neue Form der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeit. Dieser Anlass war einmalig und einzigartig. War man dabei, vergisst man Piero Del Bondio nicht. Alles, was er erarbeitet, mit seinen Händen berührt und formt, hat etwas Fliessendes innerhalb der Grenzen von Geborenwerden und Sterben.
Die Verwandlung, die Metamorphose, lässt der Künstler geschehen, hilft ihr nach und beobachtet sie aufmerksam. Sein ganzes Lebenswerk ist diesem Prozess unterworfen. Die Reduktion auf das Wesentliche im geformten und zeichnerischen Werk sowie in der Sprache stimmen mit Pieros karger Lebensform überein. Sein Leben ist nicht ohne Wunden. Das gestörte Regelwerk der Natur durch das zerstörerische Luxusstreben der Menschheit nimmt er wahr und leidet. Mit seinen Performances zeigt er den Weg zur inneren Kraftquelle, wo alles Überflüssige wegfällt, ja nicht mehr vorhanden ist. Es gibt auch keine schrillen Farben, nur diejenigen, die sich ergeben. Seine Zeichnungen, Skulpturen, Objekte, Schnitzereien und darstellenden Aufführungen wurzeln im Urgrund seines persönlichen Lebensverständnisses.
Marionettenfiguren träumen auf dem Dachboden von früheren Zeiten.
Im Estrich unter dem Dach hängen die Marionettenfiguren aus früheren Zeiten neben Büscheln von trockenen Salbeiblättern. «Warum eine Marionette bewegen, wenn doch ich die Bewegung sein kann?» Piero setzt seinen eigenen Körper als Ausdrucksmittel ein. Die Bewegungen sind leicht, fliessend und von innen her gesteuert. In dieser Art zeichnet und formt er auch kleine und grosse Figuren. Gelenke, Muskeln, Geist und Sinne sind im Gleichgewicht. Seine Annäherung an östliche Bewusstseinsübungen ist unverkennbar.
Mit seinem Bruder Andrea erlebte Piero, geboren am 10. Januar 1947, eine Kindheit, die von Handwerk und Bauerntum geprägt war. Die Familie besass eine Kuh, wenige Ziegen, ein Schwein, Kaninchen und Hühner, sodass man sich weitgehend selbst versorgen konnte. Man hatte Zeit zum Spielen, als Hirte im Wald und auf der Weide. Mit zwölf Jahren erkrankte Piero schwer. Die dramatische Körperveränderung setzte ihm schwer zu, da er sich auch von seinen Mitschülern ausgegrenzt fühlte. Er hatte Schmerzen und wollte nur noch sterben. Nach vielen Untersuchungen konnte er operiert werden. In dieser erschwerten Zeit seiner Adoleszenz begann Pieros Leben in Einsamkeit. Er sagt: «Ohne diese Krankheit wäre ich nicht Künstler geworden.» In einer Schachtel, die im Estrich lagert, sind die Tiere, einzeln eingepackt, die Piero in jener Zeit geschnitzt hatte. Es war der Anfang seines Bildungswegs in die Richtung künstlerischen Schaffens.
Borgonovo wird während zweier Monate von der Sonne nicht beschienen. Das Tal ist eng, die Berge sind zu nahe und drohen Piero Del Bondio manchmal auf den Kopf zu fallen. Dann macht er sich auf nach Paris, Südfrankreich oder Italien. Auf leisen Sohlen mit wenig Gepäck zieht er gewissermassen als Nomade durch das Land und durch die Zeit.