Zwei Forscher in Eis und Schnee

de Quervain Grönland ETH Archiv

Mit der Schweizer Fahne mitten im Grönlandeis

Was Grönland mit dem Weissfluhjoch verbindet
Marcel de Quervain war während drei Jahrzehnten Leiter des Schnee- und Lawinenforschungsinstituts SLF in Davos und hat es zu einem der bedeutendsten Forschungslabors weltweit geführt. Sein Vater 
Alfred de Quervain war nicht nur Begründer der Meteorologischen Anstalt in Zürich (heute 
MeteoSchweiz), sondern hat auch zwei erstaunliche Expeditionen gewagt.
Text 
Christian Dettwiler
Bilder 
ETH-Bibliothek

Zitat aus dem Nachruf anlässlich des Todes von Marcel de Quervain aus der «Neuen Zürcher Zeitung»: «Er ziehe einen mittleren Schneesturm einem gefüllten Briefkasten vor, hatte sein Vater gesagt. Der Sohn trat in des- sen Fussstapfen. Er führte das Schnee- und Lawinenforschungsinstitut Weissfluhjoch zu internationalem Ansehen. Und drang ein ins Wesen des Schnees, als es solchen noch im Übermass gab. […] Anfang 1951 versank die Schweiz im Schnee. Es kam zu Lawinenkatastrophen in den Kantonen Graubünden, Uri und Tessin. Andermatt wurde gerade zweimal heimgesucht. In Airolo wurde stellenweise eine Schneehöhe von 23 Metern gemessen. Täler waren abgeschnitten. Die Menschen schrieben Botschaften in grossen Lettern in den Schnee, baten um ‹Petrol› und schrieben ‹Danke›, nachdem Propellermaschinen welches abgeworfen hatten. 98 Tote zählte man in diesen Wochen. Nun hat das Institut eine Mission. Die ganze Schweiz verlangt, dass es sie schütze vor Lawinengefahr und Tod. Quervain und sein Team stürzen sich in die Aufgabe […]. Das Institut auf Weissfluhjoch wurde weltweit führend. Man mass sich mit Forschern aus Russland, Kanada, den USA und Japan. Und als Quervain 1980 abtrat, war die ganze Schweiz mit Lawinenverbauungen gesichert.»
Sowohl der Briefkasten von Marcel de Quervain wie auch der seines Vaters füllten sich indes mit Briefen und Nachrichten, denn beide gelangten mit ihrer Beschäftigung um Eis und Schnee zu grossem Ansehen.

de Quervain Grönland ETH

Alfred de Quervain hat einen eigenen Hafen in Grönland.

​Eine Karriere als Geophysiker

Alfred de Quervain (1879–1927) war in manchen Bereichen eine schillernde Figur. Nach einem Studium der Naturwissenschaften in erdwissenschaftlich-geografischer Richtung in Bern verschlug es ihn bald an geophysi- sche Institute in Paris und Strassburg, wo er sich auch als Privatdozent ha- bilitierte. Schon in Paris liess er sich als Ballonfahrer ausbilden, um winterliche Temperaturen in der Atmosphä- re zu studieren, seine erste Studienreise führte ihn ins sibirische Russland. Zurückgekehrt in die Schweiz, war er zunächst Direktor-Adjunkt an der Schweizerischen Meteorologischen Zentralanstalt (MZA – heute eben MeteoSchweiz), später war er Leiter der Schweizerischen Erdbebenwarte Degenried in Zürich, wo er unter anderem mit dem späteren Stratosphä- renforscher Auguste Piccard neuartige hochempfindliche Seismografen entwickelte. Ab 1915 war er Titularprofessor an der Universität Zürich, sein Hauptinteresse galt der Schaffung einer multidisziplinären hochalpinen Forschungsstation, die letztlich auf dem Jungfraujoch 1931 realisiert wurde. Aufgrund seines frühen Todes hat er die Eröffnung nicht mehr miterleben können.
Quer durchs Grönlandeis
Die Entdeckung der Erde – der Terra incognita oder auch Terra imaginata – war stets eine Passion der Forscher, teils getrieben durch ökonomische Argumente (die Nordwestpassage, die Roald Amundsen erkunden wollte, sollte den Weg von Europa nach China verkürzen), teils getrieben durch wissenschaftlichen Ehrgeiz, wie die Erkundung des Nord- und Südpols. Alle diese Exkursionen und Forschungsreisen haben viele Opfer gefordert, wie die Tagebücher von Robert Falcon Scott belegen, der im «Rennen» zum Südpol von Amundsen geschlagen wurde und auf der Rückreise jämmerlich starb. Ein gleiches Schicksal erlangte übrigens auch Amundsen selbst bei seiner Expedition zum Nordpol. 
Alfred de Quervain war da realistischer und vor allem von der Forschung und nicht durch Rekorde getrieben. Er plante bereits 1909 eine Forschungsreise nach Grönland, um das Eis, das die Insel bedeckt, zu erforschen – jener 2 Millionen Quadratkilometer grosse, 2400 Kilometer lange und bis zu 330 Meter dicke Panzer aus Eis. In der Forschung war dieser Eispanzer, der sich in der letzten Eiszeit gebildet hat, als «Sahara des Nordens» bekannt. Er war aber absolut unerforscht und die Inuit, die Bewohner Grönlands, mieden ihn. Es waren Forscher wie Alfred de Quervain, die sich dafür interessierten, um die klimatologischen Veränderungen zu erkunden. Vor de Quervain war es Fritjof Nansen, der erste Erkundigungen im Innern Grönlands auf dem Eis unternahm, wozu es ei- ne überaus unterhaltsame Publikation gibt: «Auf Scheeschuhen durch Grönland».

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Das Expeditionsschiff vor der eindrücklichen Eislandschaft Grönlands..

​Von West nach Ost

Hat Nansen noch eine relative kurze Überquerung im Süden des eisigen Innenlandes von Grönland mit Skiern und Schneeschuhen realisiert, war es das Ziel de Quervains, die Insel an ihrer breitesten Stelle mit der höchsten Eisdicke zu durchqueren – und zu dokumentieren. Deshalb reichten auch Schneeschuhe oder Skier nicht, de Quervain plante und realisierte seine erste Expedition 1909 mit Hundeschlitten. Das war auch notwendig, denn die gesamten Forschungsinstrumente sowie auch die Fotokameras, die mitgenommen wurden, waren sehr schwer und voluminös. Gerade die Fotos, die auf dieser Expedition entstanden, sind aber ausserordentlich. Damals wurde mit beschichteten Glasplatten und nicht mit Filmen fotografiert – und es war lange vor der Farbfotografie. Dennoch wollte de Quer- vain die Farbeindrücke der Eislandschaft festhalten, weshalb er nach der Expedition die Glasplatten durch den Zürcher Illustrator Wilhelm Heller handkolorieren liess – es entstanden eindrückliche Bilder der Grönlandexpedition. De Quervain war sich auch der Bedeutung der Medien bewusst, weshalb er mit der «Neuen Zürcher Zeitung» einen Exklusivvertrag zur Berichterstattung über die Expedition schloss. Mit einem stattlichen Honorar von 10 000 Franken deckte die NZZ damals einen Drittel der Expeditionskosten. Die Berichte über die Expeditionen – de Quervain unternahm 1912 eine zweite Grönlandreise – erschienen 1911 und 1914 erstmals auch in Buchform. Die Glasplatten blieben im Familienbesitz.

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Typischer Eisberg – ein solcher könnte der Titanic zum Verhängnis geworden sein.

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Neben Hundeschlitten war de Quervain auch mit Segelschlitten unterwegs.

​Hüter der Glasplatten

Das Erbe seines Vaters – die Glasplatten der Grönlandexpeditionen – verwahrte de Quervain in seinem Davoser Haus sorgfältig auf. 1997 wurden sie in einer Neuedition der Expeditionsberichte von Alfred de Quervain im Verlag der Neuen Zürcher Zeitung erstmals farbig publiziert – leider ist dieses Buch längst vergriffen. Nach dem Tod von Marcel de Quervain 2007 gingen die handkolorierten Glasplatten an das Fotoarchiv der ETH in Zürich und können in einer kleinen Auswahl online abgerufen werden. Auch die für diesen Text verwendeten Fotografien stammen aus der ETH-Bibliothek.

Weitere Infos

Autor
Christian Dettwiler ist Redaktionsleiter der «Terra Grischuna». Er lebt in Flims.
redaktion@terra-grischuna.ch

Online
www.library.ethz.ch