​Träume können wahr werden – oder auch nicht

Gerry Hifstetter

Illumnation der Coazhütte durch den Lichkünstler Gerry Hofstetter (Foto: Celine Hofstetter

In den Wunschlisten von Kindern werden in der Vorweihnachtszeit Träume formuliert, im Glücksfall werden sie Realität. Träume sind auch Ausdruck von Emotionen, da braucht es keine grosse psychoanalytische Vorkenntnis von Sigmund Freud. Im Verlauf der Geschichte haben sich manche Gefühle zu richtigen Kulissen ausgeweitet, ­gerade Reisende können davon berichten. Das Trauer­grab für eine indische Prinzessin in Taj ­Ma­hal, die ägyptischen Königsgrabstätten stehen ebenso dafür wie die Spielcasinos in Baden-Baden, Monte Carlo oder Las Vegas. Auch der französische Sonnenkönig Louis XIV. hat sich in Versailles mit seinem Schloss eine Traumwelt gestaltet, erweitert von André Le Nôtre mit dem Musterbeispiel einer barocken Fantasiewelt als Garten.

Es gibt aber auch Fantasie- und Gefühlswelten, die speziell für Reisende «hergestellt» wurden. Der russische Zar Peter der Grosse hat sich an der Newa am Ostende des finnischen Meerbusens für Staatsempfänge und als Residenz die Stadt St. Petersburg gebaut. Eher bürgerlich – wenngleich vornehm – geht es bei Marcel Proust in seinem Roman «À la recherche du temps perdu» zu, wo in einem fiktiven Badeort der Normandie die bür­gerlichen Träume des «Savoir vivre» ausgelebt werden. 

Weniger fiktiv sind die Traumwelten, die im Alpenraum entstanden sind. Aufgrund der zunehmenden Mobilität mit Eisenbahn und Auto konnten die Alpen mit ihren Bergen entdeckt werden. Es entstanden neue Gefühlskulissen für eine bürgerliche Gesellschaft, die damit den Entdeckergeist früherer Naturforscher nacherleben konnte. Diesem Thema widmet sich das vorliegende Heft. Traumwelten entstanden zunächst namentlich in Hotels, die für die Ansprüche der grossbürgerlichen Gesellschaft konzipiert waren. Nicht nur das Naturerlebnis stand im Vordergrund, sondern auch ein nahezu urbanes Beisammensein in «gepflegter» Atmosphäre. Luxushotels entstanden, der musikalischen Unterhaltung wurde ebenso viel Bedeutung beigemessen wie der Darstellung der Umgebung in Fotografie und in der Werbung. Hotels einer ganzen Region wurden beispielsweise gestalterisch umgedreht, damit die Gäste freie Seesicht hatten – wurde damit suggeriert. Angesichts des heutigen Reiseverhaltens präsentiert dieses Heft einen nostalgischen Rückblick in eine «temps perdu», eine vergessene Zeit. Manche der Kulissen leben heute noch, manche sind gescheitert und verschwunden. 

Giacomo Puccini verführt in seiner Oper «Wilhelm Tell» ebenfalls in eine Traumwelt und lässt eine vermeintliche Legende aufleben. Was die Ouvertüre dieser Oper mit den Schweizer Postautobussen zu tun hat, erläutert der Bündner Schauspieler Andrea Zogg, der erstmals als Opernre­gisseur tätig wird. Ansonsten im Magazinteil dieses Heftes: Ein Porträt eines Architekten, der im Rahmen des Jubels über den Wakkerpreis für die Gemeinde Bregaglia (der fünften Trägerin der Auszeichnung des Schweizer Heimatschutzes im ­Kanton Graubünden) etwas untergegangen ist: Arman­do Ruinelli. Und die «Terra Grischuna»-Schreibwerkstatt von Studierenden wird äusserst selbstbewusst fortgesetzt, diesmal in St. Moritz.

Viel Vergnügen in diesen Gefühlskulissen und träumen Sie gut!
 
Christian Dettwiler
Redaktionsleiter