Die Weisse Villa an neuem Ort

Impressionen von der Verschiebung der Weissen Villa. (Fotos: zVg/Philpp Baer)

Kulturelle und technische Meisterleistung

Am 20. August, spätnachts, wurde die denkmalgeschützte Weisse Villa im Bündner Bergdorf Mulegns um einige Meter talwärts verschoben. Damit wird das wunderbare Bauwerk für die Nachwelt erhalten, die Korrektion der Julierstrasse ermöglicht und die Sicherheit und Lebensqualität im 17-Seelen-Dorf wesentlich verbessert. Die Verschiebung wurde kulturell interpretiert: Von den Balkonen des reisenden Emigrantenhauses ertönten rätoromanische Heimwehlieder, die vom Schicksal der zahllosen Bündner Auswanderer erzählten, für die es damals in der Heimat weder Brot noch Arbeit gab.

 

Technische Meisterleistung

Der Verschiebung der Weissen Villa gingen intensive Vorarbeiten voraus. Im September 2019 erfolgte der Spatenstich. Daraufhin wurden die Kellerwände vom Haupthaus getrennt, schrittweise abgetragen und auf Stahlstelzen gestellt. Ein bewehrter Betonriegel wurde gegossen. Danach wurden die Verschubbahnen angebracht und das Haus auf die rollenden Stahlträger gestellt, die es an den neuen Standort gebracht haben. Nach dem Verschub wird das Haus ein drittes Mal umgelagert. Dann werden die Kellermauern ergänzt, die Umgebung aufgeschüttet und die Julierstrasse auf dem Teilstück neu gebaut.

Kultureller Akt

Der Verschub war nicht nur eine technische Meisterleistung der ITEN AG, sondern auch ein kultureller Akt. Die Villa des Emigranten Jegher wurde – wie ein grosses Puppenhaus auf Reisen – während des Verschubs bespielt und besungen. Die Sänger des Origen Festivals sangen rätoromanische Lieder aus dem fahrenden Haus und erinnerten an das grosse Heimweh des Zuckerbäckerkönigs aus Bordeaux. Jean Jegher, 1799 in Mulegns geboren, musste als junger Mann emigrieren. In Bordeaux erlernte er das Handwerk des Zuckerbäckers und kam zu grossem Reichtum. Mit 57 Jahren kehrte er in die Heimat nach Mulegns zurück und liess sich vom ­damals berühmtesten Architekten von Bordeaux, Jean Baptiste Lafargue, ein herrschaftliches Haus bauen. Das Heimweh trieb ihn in die alte Heimat zurück. Vom Heimweh erzählten auch die rätoromanischen Lieder, die während der Verschiebung im Haus erklangen. Das Post Hotel Löwe und die Weisse Villa wurden festlich beleuchtet, der Gesang des Origen Ensembles war über den Fallerbach hinaus zu hören.

Kulturelle Standortförderung

Für Origen ist der Verschub der Weissen Villa auch ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung des Festivals. Origen-Gründer Giovanni Netzer ist von der Kraft der Kultur überzeugt: «Kulturelle Verantwortung endet nicht am Bühnenrand. Wir wissen, dass kulturelles Engagement viel bewirken kann. Kultur kann Dörfer retten, Wohnungsbau neu interpretieren, soziale Impulse geben, Gastfreundschaft frisch definieren, Wissenschaft und Forschung inspirieren, die Tradition bewahren, Hoffnung bauen. Die Kultur ist eine elementare Kraft, die wir allzu oft in goldene Käfige stecken und ihrer Wirkmächtigkeit berauben. Auf die Realität losgelassen, kann sie kleine Wunder vollbringen und Leben ermöglichen. Das wollen wir versuchen.»

Ein Campus für Riom

Aber Origen hat noch weitere Pläne: In ­Riom, mitten in der grossartigen Landschaft des Surses, soll ein einzigartiger Campus entstehen, der schöpferische Potenziale fördert und kulturelles Engagement neu definiert. Ein grosser Garten mit lichtdurchfluteten, leichten Bauten schafft Raum für kulturelle Projekte, die Bühnenspiel, Ausstellungswesen, Forschung, Baukultur, Dorf­entwicklung und Bildung umfassen. Ziel ist die Vernetzung von Kunst und Wissenschaft, Handwerk und Technologie, Natur und Kultur. Herzstück des Campus ist ein neuer Theatersaal, der sich zur weiten Landschaft hin öffnet und ab 2023 den Julierturm ersetzen soll. Der Campus schafft zwei Dutzend neue Arbeitsplätze, kostet rund 15 Millionen Franken und soll bis 2028 vollendet sein. Die Baurechtsgesuche für die notwendigen Parzellen wurden bei der Gemeinde Surses eingereicht.
Der Riomer Campus nutzt die Kraft der Landschaft und der umgebenden Natur, um den kreativen Prozess zu fördern. Intendant Giovanni Netzer hat eine klare Vorstellung für die Gestalt des Campus: «Die Natur, die sich beständig wandelt, die Jahreszeiten und Tageswechsel kennt, ist eine starke In­spirationsquelle für schöpferische Prozesse. Darum soll der Campus als grosser Garten gestaltet werden, der an die fundamentalen Formen der Kultur erinnert, zum Verweilen einlädt und an den Urgarten Eden erinnert, der am Anfang allen spielerischen Schaffens steht. In diesem Garten gruppieren sich leichte, helle Räume, die einen weiten Bezug zur Landschaft ermöglichen und den kreativen Menschen als Teil einer sich beständig verändernden Natur verstehen. Der Theatersaal eröffnet den Blick auf die umliegenden Bergketten, die in der Dämmerung, bei Spielbeginn, leuchten – und mit Sicherheit einer der eigenwilligsten und schönsten Theaterräume der Alpen sein wird.»