Alles hat seine Zeit

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Schloss Salen­egg in Maienfeld gilt als eines der ältesten Wein­güter ­Europas

Rückblickende Einblicke in ein für die Region gewichtiges Gewerbe
Andere Branchen künden im Quartalstakt umwälzende Neuerungen an, beim Weinbau geht alles gemächlicher zu und her. Und doch: Es hat sich viel verändert in den letzten Jahrzehnten. Auch in Graubünden. Der Beerliwein mutierte zum Barriquewein und weisse Sorten fassten wieder Fuss.
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Stefan Keller
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Hans-Peter Siffert (weinweltfoto.ch)

Die englische Weinbuchautorin Jancis Robinson besuchte Anfang des Jahres die Schweiz. In der «Financial Time» schrieb sie über ihre Entdeckungen und listete zwei Dutzend Weine auf, die sie als «Weltklasse» bezeichnet. Als einziger Pinot noir fungiert Peter Wegelins Reserva 2011 aus Malans. Das ist gewiss kein Zufall, denn kein anderes Schweizer Weinbaugebiet fokussiert sich so stark auf den Blauburgunder wie Graubünden. Dies hat eine lange und zugleich kurze Geschichte, lang, weil die Anfänge bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen, kurz, weil es Pinot noir, wie ihn Jancis Robinson begeistert hat, erst seit zwei Jahrzehnten gibt.

Winzer

Martin Donatsch – einer der Barrique-Pioniere der Herrschaft

Aus Weiss wird Rot

 «Trotz seiner Gebirgslage hat Graubünden klimatisch und geologisch derart bevorzugte Gegenden, dass hier Weine erzeugt werden, die zu den besten und gehaltreichsten Weinen der ganzen Schweiz zählen», heisst es im vom Zürcher Rebbaukom­missär Dr. A. Schellenberg 1943 herausgegebenen Werk «Das Buch vom Schweizer Wein». Seit dem 17. Jahrhundert dominiert der Pinot noir das ­Anbaugebiet. «Vom Bündner Rheintal aus verbreitete sich die Burgunderrebe – trotzdem man das unter schwerer Strafe zu verhindern suchte, weil die Herrschäftler die neue, sehr geschätzte Sorte für sich als Monopol halten wollten – in der ganzen Nordostschweiz.» Der Autor des Beitrags, Oberst Hans Luzius von Gugelberg, Präsident der Weinbaukommission des Kantons Graubünden, monierte, dass sich in letzter Zeit die Abgabe von Frühsauser eingebürgert habe. Noch bedenklicher sei der zu frühzeitige Traubenverkauf direkt an Weinhändler. «Der Weinbauverein, der, wo ­immer möglich, die Interessen der Gegend vertritt, nimmt dagegen energisch Stellung, und es scheint, dass bei fast allen Weinbauern immer mehr die Überzeugung durchdringt, dass sich unsere Vorzugspreise allein mit dem Zuwarten bei der Lese halten lassen.» Ansonsten fand Präsident von Gugelberg lobende Worte für die Bündner Winzer, der Qualitätsgedanke gehe allem voran. Man achte auf einen möglichst kurzen Schnitt, und man habe das Glück, dass man die Reblaus hier noch nicht kenne und könne sich deshalb zäh an die alten, wurzelechten Bestände mit ihren verhältnismässig kleinen Reben halten.

Winzer

Erfolg mit Pinot Noir auch durch Frauen: Irene Grünenfelder in Jenins

​Verdoppelung der Anbaufläche

Nach dem 2. Weltkrieg waren im Bündner Rheintal 180 Hektaren mit Reben bestockt, 150 davon lagen in der Bündner Herrschaft. Bis 1970 stieg die Anbaufläche kontinuierlich auf 200 Hektaren an. Durch die Melioration in Fläsch (1972/73) kam es zu einem Erweiterungsschub. 1980 wurden bereits 270 Hektaren kultiviert und vor allem in Fläsch waren neue Weinbaubetriebe entstanden. Nebst dem Blauburgunder hatten nur Riesling-Silvaner (16 ha) und Grauburgunder (3 ha) eine beschei­dene Bedeutung. 1980 war ein Jahr extrem später Reife. Am 5. November wurde die Traubenlese für den Blauburgunder freigegeben und erst am 15. November war die Ernte abgeschlossen. Rebbaukommissär Jakob Naef rapportierte, «dass aufgrund der Teuerung beschlossen wurde, die Traubenpreise gegenüber dem Vorjahr um 20 Rappen anzuheben». Riesling-Silvaner löste pro Kilo Fr. 3.40, Blauburgunder Fr. 3.80. Heute liegen die Preise bei Fr. 4.– beziehungsweise Fr. 5.20.

1999/2000 kam es im Bündner Rheintal zu einer Erweiterung der Rebbauzone. Heute beträgt die Pro­duktionsfläche 423 Hektaren. Sie ergibt im Zehnjahresdurchschnitt rund 2,3 Millionen Hektoliter Wein, das entspricht etwa 3 Millionen Flaschen Wein. 

Die Geburt des Burgunderstils

Im November 1980 erscheint die erste Nummer von «Vinum – Die Zeitschrift für die Freunde des Weins». Im Editorial schreiben die Herausgeber: «Natürlich: Weinlesestoff gibt es in Hülle und Fülle. Die Fachliteratur füllt nicht nur Bände, sondern Bibliotheken. Die Flut der Weininforma­tionen hat indessen zwei Nachteile: In unserer schnelllebigen Zeit mögen sich die prächtigsten Bücher wohl gut machen auf dem Bücherbrett – doch fehlt ihnen die Aktualität.» Ein Schwerpunkt der Erstausgabe ist dem Blauburgunder gewidmet: «Pinot noir im strengen Examen.» Sieben Schweizer 1979er-Abfüllungen aus sieben Kantonen werden von der siebenköpfigen «Vinum»-De­gusta­tionskommission geprüft und bewertet. 

Die Muster sind aus einer Vielzahl als repräsentativ geltender Weine ausgelost worden. Die höchste Durchschnittsnote erzielt der Fläscher von Hans Davaz, er wird im Gegensatz zu anderen Kandidaten homogen beurteilt und von einigen auch als Herrschäftler erkannt. 1984 widmet «Vinum» den Bündner Weinen die Hauptgeschichte und es werden ein Dutzend Bündner Blauburgunder Jahrgang 1981 verkostet. Als klaren Sieger erkürt die neunköpfige Jury den Felsberger Glockengiesser der Volg Weinkellerei. «Vinum»-Redaktor An­dreas Keller stellt im Kommentar die Frage «Was ist ein guter Blauburgunder?» und schrieb: «Allerdings, der vollmundige Felsberger von Volg verdient seine 18,4 Punkte voll und ganz. Was mich nur erstaunt ist der Abstand zum nächstbesten Wein von Hans Davaz und zum drittbesten, dem kernigen Malanser vom Plantahof. Diese drei in ihren Grundlinien völlig verschiedenen Weine befinden sich sicher alle auf demselben hohen Niveau – welchen man von ihnen bevorzugt, bleibt persönliche Geschmacksache.» Fragwürdig scheinen ihm aber die Differenzen in der Beurteilung im Mittelfeld. Bis zu vier Punkten liegen die Degustatoren auseinander. Und er fragt: «Woran sollte man diese Weine überhaupt messen? Etwa an den standardisierten Allerwelts-Ostschweizern, die man heute leider so oft antrifft? Oder an den klassischen Weinen Burgunds, welche ohne Zweifel die Perfektion des hochsensiblen Pinot noir darstellen?» Als Exem­pel dieser Unsicherheit führt er das Beispiel von Thomas Donatschs Malanser an, dessen Wein Noten zwischen 13 und 19 Punkten erhielt. Donatsch hatte 1980 den elterlichen Weinbaubetrieb und das Restaurant «Ochsen» in Malans übernommen. «Unter eingefleischten Ostschweizer Liebhabern ist Thomas Donatsch sehr umstritten. Was er mache, das habe nichts mehr mit Ostschweiz zu tun, das sei einfach Nachäfferei von französischen Vorbildern.» Donatsch baute einen Teil seiner Blauburgunder- und Chardonnaytrauben so aus, wie er es bei seinem Freund André Noblet, Kellermeister der Domaine de la Romanée-Conti im Burgund, gelernt hatte. Dafür wählte er die besten Trauben der Malanser Lagen Spiger und Selvenen aus. 

30 Jahre später stehen in allen Kellern der 60 Selbstkelterer und der Weinhäuser Barriques oder Pièces, in denen die wertvollsten Weine oft nach Lagen getrennt ausgebaut werden. Der Preis für ­eine Flasche Pinot noir hat sich in dieser Zeit vervielfacht. War damals ein Beerliwein für rund zehn Franken zu haben, so kostet heute das Topprodukt eines Betriebs gut und gerne zwischen 30 und 60 Franken.

Winzer

Gian Battista von Tscharner hat das Completer-Revival mitgeprägt

​Die Zukunft ist weiss

Oberst Hans Luzius von Gugelberg schrieb in seinem Porträt zum Bündner Weinbau: «Erwähnt sei auch noch ein Weisswein, der Completer, der, abgesehen von einzelnen eingestreuten Reben, heute nur noch an der bekannten Completerhalde in Malans zu treffen ist.» Gian-Battista von Tscharner, der im Schlosskeller von Reichenau eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Weine ausbaut, kelterte seinen ersten Jahrgang 1976. Damals stand nebst dem Blauburgunder und Riesling-Silvaner in ganz Graubünden eine Hektare Grauburgunder im Ertrag und Kleinstflächen mit Gewürztraminer, Completer und Freisamer. Heute sind bereits 20 Prozent der Anbaufläche mit weissen Varietäten bestockt. «In den letzten Jahren stagnierte der Rotweinkonsum, beim Weisswein hingegen kam es zu einer wahnsinnigen Steigerung», sagt von Tscharner. Nebst Riesling-Silvaner sind am be­liebtesten Chardonnay, Weissburgunder, Grau­bur­gun­der und Sauvignon blanc. Gian-Battista von Tscharner weiss: «Dies sind Moden, und die kommen und gehen. Schloss Reichenau produziert heute einen Viertel Weisswein. Soll dieses Verhältnis beibehalten werden? Vorderhand ändern wir nichts. In einem Jahr wird Johann Baptista den Betrieb übernehmen, er, ein absoluter Pinot-noir-Fan, wird dann entscheiden.»

Bündner Herrschaft
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Autor
Stefan Keller ist freischaffender Publizist und Wein­produzent. Er arbeitet und lebt in Promontogno und Rapperswil-Jona.
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