Seesicht in Flond

Noch immer frisst sich der Vorderrhein durch die Bergsturzmasse. (Foto: Marco Hartmann)

Als der Berg stürzte und Ilanz unter Wasser setzte
Es war eines der grössten Bergsturzereignisse des Alpenraums: ­Der Flimser Bergsturz vor rund 9450 Jahren. Die Massen stauten das Wasser des Rheins zu einem mittelgrossen See auf.
Text 
Julian Reich

Ob wohl jemand in der Gegend war, als das grosse Getöse begann? Immerhin war der Mensch zu dieser Zeit bereits eine ganze Weile lang im Alpenraum unterwegs, wenn auch eher jagend und sammelnd als permanent. Was er oder sie wohl gehört haben mag, damals vor 9450 Jahren, als sich oben am Flimserstein der Fels löste und zu Tal stürzte, unvorstellbare neun Kubikkilometer davon, donnernd, tosend, staubend? Unweigerlich denkt man an den Baum im Wald und die Frage, ob er beim Fallen ein Geräusch macht, auch wenn ihn niemand hört. Ein paar Bäume dürften umgefallen, ja umgestossen und zerdrückt worden sein damals. Ob es jemand gesehen, gehört, gespürt hat? Auf jeden Fall ist es niemandem zu wünschen, allzu nahe am Flimser Bergsturz gewesen zu sein, als er sich ereignete.

Dass es ihn gab, das ist unbestritten, ernsthaft erforscht wird er ebenfalls bereits seit dem 19. Jahrhundert. Der Bau der Umfahrungstunnels von Flims zu Beginn des neuen Jahrtausends brachte frisches Interesse für die geologischen Ereignisse, die zum heutigen Landschaftsbild zwischen Ilanz und Bonaduz führten. Und die Ruinaulta, ­diese vom Wasser geschaffene Schlucht durch das Bergsturzmaterial, eröffnet aufschlussreiche Einblicke in die Vergangenheit. Im jüngst eröffneten Baumwipfelpfad von Laax spielt der Bergsturz gar eine Hauptrolle, wird seine Geschichte doch mit Virtual-Reality-Mitteln sichtbar gemacht.

Der Crestasee vor dem Flimserstein. (Foto: www.wanderungen-flims-laax-falera.ch)

Nach der Eiszeit

Doch zurück in die Vergangenheit. Auf 2700 m ü. M. liegt die Anrissstelle, an der sich die 300 bis 500 Meter mächtige Masse löste und in einem Rutsch ins Tal hinunterglitt, quasi en bloc. Die Trümmer türmen sich im Talboden bis zu 750 Meter auf und bedecken eine Fläche von gut 52 km². Die Energie, die dabei freigesetzt wurde, muss enorm gewesen sein. Das Material gelangte bis ins Domleschg und weiter hinunter in die Rheinebene bei Domat/Ems und Chur, wo die Tumas noch heute davon zeugen.
Lange hielt sich die Vorstellung, der Flimser Bergsturz – und vor ihm derjenige von Tamins – ­seien Folgen der Erderwärmung im Nachgang zur letzten Eiszeit gewesen. Mit der Datierung von Hölzern und der Plausibilisierung mit anderen Zeugnissen wie Baumpollenkonzentrationen konnten Forscher um den Geologen Andreas von Poschinger den Zeitpunkt des Ereignisses relativ genau auf das Jahr 9450 vor heute datieren. Also nach dem Abschmelzen der letzten Gletscher.
Da die Region demnach nicht von Eismassen überfahren worden ist, zeigt sich die Situation noch heute fast genau so wie kurz nach dem Sturz. Da sind etwa die grösseren Blöcke, die sich rund um Flims, Laax und Falera aufeinandergestapelt haben und ein komplexes System an unterirdischen Wasserflüssen bilden. Die heute noch vorhandenen Seen – bekannt sind Cauma- und Crestasee – sind zumindest zum Teil untereinander verbunden.

 

Nach dem Berg kam die Flut

Weiter unten im Tal bildete die Sturzmasse feineres Material, das sich zu einem Damm auftürmte und so einen See entstehen liess. Bei Versam wird diese Bergsturzmasse heute in einem Kieswerk abgebaut. Der Riegel sorgte dafür, dass sich über zwei bis vier Jahre das Wasser des Rheins aufstaute, bis der Seespiegel auf ca. 900 Meter über Meer zu liegen kam. So zumindest lässt es sich aus der heutigen Abflussmenge des Vorderrheins berechnen. Der natürliche Staudamm befand sich im Raum der heutigen Isla Casty, zwischen Conn und Lengwald. Hier dürfte auch wenige Jahre nach dem Bergsturz ein katastrophaler Dammbruch stattgefunden haben, wie Jürg Caprez, Geograf und Präsident der Vereinigung Flimser Bergsturz, erklärt. Zunächst brachen rund 100 Meter des Damms, was eine Flutwelle zur Folge hatte, die nicht nur das Gebiet von Trin mit ­Sedimenten überschwemmte, sondern bis an den Bodensee hinunter zu spüren war, wie Störungen in den Ablagerungsschichten zu erkennen geben.

 

Eine Visualisierung zeigt die wahrscheinliche Gestalt des Ilanzer Sees. (Visualisierungen: Jürg Caprez/Google Earth/swisstopo)

Der restliche Damm blieb so lange stabil, bis das verbliebene Seebecken wieder zu grossen Teilen mit Sedimenten gefüllt war. Erst dann schnitt sich der Rhein vom Niveau auf 820 m ü. M. zum aktuellen Flussbett auf ca. 610 m ü. M., also weitere 210 m tief, ein. Und er tut es weiterhin, denn noch immer ist der Rhein nicht auf seinem ursprünglichen Flussbett angelangt.

 

Zwischen Walensee und Zürichsee

Der sogenannte Ilanzer See dürfte sich gemäss ­Modellrechnungen bis zu 29 Kilometer gegen Rabius hin erstreckt – mit einem Seitenarm in die Val Lumnezia hinüber – und ein Volumen von bis zu 3 Kubikkilometern aufgewiesen haben. Der Walensee zum Vergleich fasst rund 2,5 Kubikkilometer Wasser, der Zürichsee 3,9. Unbestritten wäre er so der grösste See des Kantons Graubünden geblieben – hätte sich der Rhein nicht nach und nach durch die Bergsturzmasse gefressen. Wer heute in Flond wohnt, dürfte sich also über Seeanstoss freuen.

 

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