Ein aufgeschlagenes ­Geologiebuch

Gletscher formten die sogenannten Gletschermühlen. (Foto: Alfons Kühne)

UNESCO-Weltnaturerbe Tektonikarena Sardona
Nirgendwo auf der Welt können die Prozesse der Gebirgs­bildung auf so anschauliche Weise nachvollzogen werden wie in der Tektonikarena Sardona. Zentrales Element ist ­die Glarner Hauptüberschiebung. Am Fuss des höchsten Gipfels des UNESCO-Welterbes bewarten Alfons und Dorothea Kühne die Ringelspitzhütte.
Text 
Maya Höneisen

«Eine Hütte hat immer ihren ganz eigenen speziellen Platz. Man kann deshalb nicht eine mit der anderen vergleichen. Den Ort, wo sie steht, gibt es immer nur dort», sagt Alfons Kühne. Jeder dieser Orte, an welchem eine Hütte gebaut worden sei, habe ihre eigene Faszination. Alfons Kühne ist ausgebildeter Bergführer und als Hüttenwart der Ringelspitzhütte auch Geoguide in der Tektonikarena. «Wenn man als Bergführer unterwegs ist, kommt man naturgemäss mit Steinen in Kontakt», erzählt er. Automatisch entstehe dann auch das Interesse, sich etwas in ihre Geschichte zu vertiefen.

Er wisse inzwischen einiges über die Tektonikarena. «Gegenüber den Wissenschaftlern bin ich aber natürlich ein Laie», hält er sich bescheiden zurück. Aber: «Mit Hintergrundwissen sieht man plötzlich Dinge, die man vorher gar nicht bemerkt hat.» So zum Beispiel in den Schluchten hinter der Ringelspitzhütte am Lavoibach. «Da gibt es Einschlüsse von Korallenstücken in Kalkbereichen», erzählt er begeistert. Solche Einblicke gibt er auf seinen Führungen natürlich gerne an seine Gäste weiter. Ihm ist wichtig, die Natur, ihre Vielfalt und das Wissen um die Tekto­nikarena Sardona zu vermitteln.

Weltweit einzigartig

Diese Geschichte ist in der Tat weltweit einzigartig. Über Jahrmillionen hinweg hat der Zusammenstoss von Afrika mit Europa die Alpen aufgetürmt. Gesteinsschichten wurden übereinan­der geschoben, gefaltet oder zerbrochen. Besonders gut sichtbar sind die Spuren dieser gewaltigen Kräfte in der Tektonikarena Sardona. Die markante Kerbe rund um den zweigeteilten Piz Sardona trennt die 250 bis 300 Millionen Jahre alten Verrucano-Gesteine von den 35 bis 50 Millionen Jahre alten Flysch-Gesteinen.

In der Regel liegen die ältesten Gesteine jeweils zuunterst, während jüngere Gesteine darauf abgelagert wurden. In der Tektonikarena Sardona ist es jedoch genau umgekehrt. Entlang der «Glarner Hauptüberschiebung» wurden im Laufe der Entstehung der Alpen ältere auf viel jüngere Gesteine geschoben. Ein Prozess, der bei einer Geschwindigkeit von ein paar Millimetern pro Jahr mehrere Millionen Jahre dauerte. Als «Schmiermittel» diente ein marmor­artiger Kalk, der sogenannte Lochseitenkalk. Nirgends auf der Welt kann dieses Phänomen so gut beobachtet und kontinuierlich über 30 bis 40 Kilometer verfolgt werden wie in der Tektonik­arena Sardona. Die vielen, gut erhaltenen Spuren erlauben es, die Prozesse der Gesteinsdeformationen und der Entstehung der Alpen zu erforschen und zu verstehen. Es erstaunt deshalb kaum, dass seit über 200 Jahren Geologen aus aller Welt zu Bildungs- und Forschungszwecken in die Tektonikarena kommen.

 

Alfons Kühne kennt die Tektonikarena Sardona wie seine Westentasche. (Foto: Dorothea Kühne)

Um das Martinsloch ranken sich zahlreiche Legenden. (Foto: bilder.gr)

Ein besonderes Loch

Jeweils ein Besuchermagnet ist das Spektakel um das sagenumwobene Martinsloch. Das seltsame Felsenfenster mit einem Durchmesser von 19 Metern und einer Höhe von 22 Metern auf rund 2600 m ü. M. im grossen Tschingelhorn entstand durch die schnellere Erosion der Gesteine in einer tektonischen Schwächezone. Rund acht Tage vor dem astronomischen Frühlings- und nach dem Herbstanfang scheint die Sonne während gut zwei Minuten durch die Öffnung und wirft ihre Strahlen auf den Kirchturm von Elm. Dieses Ereignis fasziniert seit Jahrhunderten und zieht noch heute jeweils zahlreiche Schaulustige an.

Gelegentlich ist auch der Mond durch das Martinsloch zu beobachten. Es wundert deshalb nicht, dass es zahlreiche Sagen um dieses Felsenfenster gibt. So erzählt man sich, einst sei ein Heiliger namens Martin ins Land gekommen. Er gelangte ins bündnerische Flims und predigte dort das Christentum. Als alter Mann zog er sich in die Wildnis zurück und lebte als Schafhirt unter dem Gipfel des Segnes. Eines Tages versuchte ein Dieb, Sankt Martins Schafe über den Segnespass auf die Glarner Seite zu treiben. Doch Martin, der auf einem Stein sass, sah den Schafdieb und schleuderte voller Zorn seinen Eichenspeer haarscharf am Kopf des Diebs vorbei. Der Speer fuhr in den Felsen und riss ein grosses Stück Gestein heraus, das nach Elm hinunterstürzte. Zurück blieb ein grosses Loch im Fels, seither das «Martinsloch» genannt. Auf der Glarner Seite erzählt man sich übrigens eine ähnliche Sage, einfach mit umgekehrten Vorzeichen.

Seltenes Naturparadies

Zurück zu Alfons Kühne. Sein Respekt vor der Natur sei im Laufe der Jahre gewachsen, erzählt er. Verständlich, die Tektonikarena Sardona ist nicht nur ein geologisches Wunderwerk, sondern auch ein wahres Naturparadies mit Schutzreservaten von Tieren und Pflanzen, die vom Aussterben bedroht sind. Die verschiedenen Höhenlagen, klimatischen Bedingungen und geologischen Untergründe ergeben eine grosse Vielfalt an Lebensräumen. Es gibt Hochmoore, Schwemmebenen, alpine Auen, Felslandschaften und Wälder. Rund 800 Pflanzenarten wurden gezählt. Nicht nur die älteste wieder angesiedelte Steinbockkolonie der Schweiz findet sich hier, die Tektonikarena bot auch die besten Voraussetzungen für die Auswilderung von Bartgeiern.

Nach seinem persönlichen Lieblingsort im Welterbe gefragt, meint der passionierte Bergführer und Hüttenwart: «Den gibt es nicht. Vielmehr ist es so, dass man einen Ort umso mehr schätzen lernt, je besser man ihn kennt. So entsteht mit der Zeit Liebe zu einem Ort.»

Weitere Infos
UNESCO-Weltnaturerbe

Am 7. Juli 2008 wurde die Tektonikarena Sardona von der UNSESCO als Weltnaturerbe in die Welterbeliste aufgenommen. Die Aufnahme erfolgte aufgrund des Antrags von damals 19 beteiligten Gemeinden, die sich in einer Vereinbarung verpflichteten, gemeinsam für die Erhaltung und Pflege des Welterbes sowie der Landschaften, Lebensräume und Geotope zu sorgen. Im Aufnahmeentscheid forderte die UNESCO, dass die Werte der Tektonikarena Sardona, insbesondere die aussergewöhnliche Geologie, den Gästen erklärt und vermittelt werden.

Online: www.unesco-sardona.ch, www.ringelspitz.ch