Wachsen Berge in die Höhe?

Berge Graubünden

Die Granitgipfel Piz Bernina und Piz Roseg. (Foto: VBS)

Die Antwort auf diese Frage ist im Kanton der 150 Täler einfach zu beantworten: Nein, denn Berge gibt es, weil wir Täler haben. Der Einschnitt der Täler verursacht das lokale Relief, das heisst, die Höhenunterschiede zwischen Talgrund und Bergspitzen, und ist für die Form der Berge verantwortlich.
Text 
Adrian Pfiffner

Aber warum finden wir auf dem Piz Bernina in luftiger Höhe Granite, welche einst in mehr als fünf Kilometer unter der damaligen Erdoberfläche in das Nebengestein eingedrungen sind? Die Antwort ist im Prozess der Gebirgsbildung zu suchen, bei welcher der gesamte Alpenkörper in die Höhe gestemmt und abgetragen wurde. Die Ursache dieser Bewegungen ist die Plattentektonik. Vor 100 Mil­lionen Jahren bestand ein Ozean zwischen dem damaligen Nord- und Südkontinent. Der Nordkontinent war Europa, der Südkontinent Adria, ein Sporn von Afrika. Vor 90 Millionen Jahren begannen diese Kontinente, sich aufeinander zuzubewegen. Der Ozean schob sich dabei unter Adria, wie dies in Abbildung 1 schematisch dargestellt ist. Später tauchte auch der Südrand von Europa unter Adria. Dabei wurde dieser Südrand zusammengestaucht und ganze Krustenpakete übereinander geschoben. Abbildung 1 zeigt die gestapelten Pakete im Untergrund der Uralpen vor 30 Millionen Jahren. Am Kontakt zwischen Europa und Adria entstand eine Knautschzone. Der untere Teil der europäischen Platte tauchte nach unten ab, der obere Teil wurde nach oben gequetscht. Durch diesen Vorgang wurde der nördliche Teil der adriatischen Platte an der Insubrischen Störung zum Gebirge emporgehoben. Die Konvergenz zwischen Europa und Afrika ging aber weiter. Der obere Teil der adria­tischen Platte zwängte sich in die europäische Platte hinein und hob deren oberen Teil weiter an. Der gleichzeitige Abtrag in den Alpen führte dazu, dass Gesteine an der Oberfläche erschienen, die vor 30 Millionen Jahren noch in einer Tiefe von 15 und mehr Kilometern unter der damaligen Landoberfläche waren.

Die Konvergenz zwischen den beiden Platten ist mittels zweier Referenzpunkte in Abbildung 2 verdeutlicht. Der rote Stern markiert den Calanda, der grüne Stern den Piz Bernina. Die horizontale Distanz zwischen den beiden Fixpunkten betrug vor 90 Millionen Jahren viele Hundert Kilometer, vor 30 Millionen Jahren knapp 200 und heute etwa 80 km. Die Konvergenz dauert heute noch an. Die Uralpen vor 30 Millionen Jahren bestanden an der Oberfläche hauptsächlich aus Gesteinen der adriatischen Platte, während heute zwei Drittel der Gesteine der europäischen Platte zuzuordnen sind.

Berge Graubünden

Die Entwicklung der Alpen innerhalb der letzten 90 Mil­lionen Jahre. (Grafik: zVg)

Berge Graubünden

Im Hintergrund das Kalkgebirge des Calanda, im Vordergrund das in Tonsteine und Sandsteine eingeschnittene Domleschg. (Foto: VBS)

Bringt der Abtrag die Berge zum Verschwinden?

Das heutige Relief der Alpen entstand im Verlauf der letzten 30 Millionen Jahre infolge des Abtrags durch das Oberflächenwasser, gepaart mit dem Abtrag durch die Gletscher der Eiszeiten während der letzten 2 Millionen Jahre. Eine Gesteinsschicht von vielen Kilometern Mächtigkeit wurde abgetragen (rund 10 km in Nordbünden, 15 km und mehr in Südbünden). Mit der fortlaufenden Tieferlegung der Täler und Berge blieb zwar das lokale Relief erhalten, aber die Gesteinszusammensetzung des Felsuntergrunds änderte sich laufend. Da aber die Bergformen von dieser Gesteinszusammensetzung geprägt wurden, änderte sich auch das Aussehen der Berge. Der Abtrag liess neue, ebenso hohe Berge entstehen.
Zwei Beispiele mögen die Umgestaltung von Bergen und Tälern illustrieren. Vor 500 000 Jahren flossen Vorder- und Hinterrhein als West-Rhein über den Kunkelspass nach Sargans, die Ur-Julia als Ost-Rhein über die Lenzerheide nach Chur. Erst später wurden die Schinschlucht und das Rheintal zwischen Reichenau und Chur eingeschnitten, sodass der Ost-Rhein gekappt und der West-Rhein nach Chur umgelenkt wurde.
Das Quellgebiet des Inns liegt heute am Maloja- und Lunghinpass. Früher aber war es zuhinterst in der Val Maroz und im Gebiet Forno–Muretto. Diese Oberläufe wurden durch den Einschnitt der Mera gekappt und entwässern heute nach Chiavenna.

Berge Graubünden

Mächtige Geröllhalden in den Engadiner Dolomiten rund um den Pass dal Fuorn. (Foto: VBS)

Bergformen

Die Formen von Bergen (und Tälern) widerspiegeln die Zusammensetzung des Felsuntergrunds. Ein wichtiger Parameter ist dabei die Erosionsresistenz der beteiligten Gesteine. Die grösste Erosionsresistenz haben Granit und Gneis, gefolgt von Kalkstein und Dolomit; die geringste haben Ton­steine und Mergel. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass viele der höchsten Berge in Graubünden Gipfel aus Granit haben. Beispiele hierzu sind die Gebiete um Piz Bernina, Cima di Castello oder Rheinwaldhorn. Diese hohen Bergrücken sind naturgemäss auch eisbedeckt und entsprechend glazial überprägt. Bilden sich auf den Flanken durch die Wirkung des Eises Kare, entstehen zwischen benachbarten Karen spitze Gräte, die zu den Gipfeln aufsteigen. Diese Berggipfel werden in Deutschbünden vielfach als Hörner bezeichnet (Rheinwaldhorn, Güferhorn, Zervreilahorn, Rot­horn, Schwarzhorn). Im rätoromanischen Sprachgebiet wird die Form mit der Bezeichnung Piz oder Corn angedeutet (Piz Ela, Piz Linard, Piz Minschun), im italienischen mit Piz oder Pizzo (Piz Corbet, Pizzo Tambo, Pizzo Cengalo). 

Besteht der Felsuntergrund aus mächtigen Kalk­steinschichten, entwickeln sich hohe Felswände, an deren Fuss sich der Schutt in Geröllhalden sammelt. Schön sichtbar ist dies etwa am Calandamassiv und in der Umgebung des Ofenpasses im Schweizerischen Nationalpark. 

Ein ganz anderes Bild ergibt sich im Falle eines Fels­untergrunds aus Tonstein und Wechsellagerungen von Sandsteinbänken und Tonsteinlagen. Der Abtrag durch fliessendes Wasser ist hier besonders effizient. Rillen, Runsen und tiefe Furchen charakterisieren die Talflanken und der Bergrücken ist gratförmig. In der Kette des Stätzer Horns lässt sich dies gut beobachten. Eindrücklich ist auch die Schlucht, welche die Plessur zwischen Molinis und Chur in die leicht erodierbaren «Bündnerschiefer» eingeschnitten hat, oder die Schluchten zwischen Trimmis und Says/Valtanna (Valmola- und Valturtobel).
Die namentlich im Rätikon verbreitete Bezeichnung «Fluh» beschreibt Berggipfel mit längeren Felswänden, die von Dolomit- und Kalksteinschichten gebildet sind (Sulzfluh, Drusenfluh, Weissfluh).
Die im Ozean zwischen der europäischen und adria­tischen Platte entstandenen Gesteine zeichnen sich durch ihre dunkle grüne Färbung aus. Sie lassen sich als dünnes Band vom Rätikon zur Tot­alp oberhalb Davos zum Piz Platta und weiter vom Oberhalbstein ins Oberengadin verfolgen. Ihre wechselnde Mächtigkeit ist eine Folge der intensiven Scherung beim Eintauchen des Ozeans unter die adriatische Platte vor 90 Millionen Jahren (vgl. Abb. 2).

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Im Rätikon liegen Gesteinspakete von Adria und einem Ozean über Europa. (Foto: A. Pfiffner)

​Was bringt die Zukunft?

Noch heute bewegt sich Adria mit etwa 1 Millimeter pro Jahr nach Norden (Abb. 1) und das alpine Gebirge hebt sich immer noch. Die Region Nordbünden hebt sich mit etwa 1,5 mm pro Jahr. Verteilt man den Schutt, den der Rhein im Bodensee jährlich ablagert, auf das gesamte Einzugsgebiet des Rheins, ergibt dies eine Schicht von etwa 0,5 mm. In gewissen Gebieten wie etwa im Lugnez hat man aber viel höhere Abtragraten gemessen. Auch Bergstürze und Rüfen ergeben lokal viel höhere Raten. Insgesamt kann man davon ausgehen, dass sich Hebung und Abtrag die Waage halten. 

Spielt die viel erwähnte Klimaerwärmung eine Rolle beim Abtrag? Ein Phänomen, das in diesem Zusammenhang wichtig ist, stellt das Schwinden des Permafrosts dar. Der Permafrost entwickelte sich in Kaltzeiten, als Wasser ins Gestein drang und dieses beim Gefrieren zerrüttete. Solange das Eis erhalten bleibt, hält es das Gestein zusammen. Taut das Eis auf, löst sich das Gestein in Fragmente auf und wird dadurch unstabil. Die Folge sind Steinschlag, Felsstürze oder sogar Bergstürze. In Lagen über etwa 2400 m ü. M. ist heute das Wasser in den Gesteinsschichten bis in eine Tiefe von mehr als 100 Metern festgefroren. Hier ist der Effekt der Klimaerwärmung besonders ausgeprägt. 

Starkniederschläge – ob klimabedingt oder nicht –verursachen Murgänge oder Rüfen und beschleunigen lokal den Abtrag. Seit dem Abschmelzen der Gletscher der letzten Eiszeit vor 12 000 Jahren sind dadurch die Talflanken erheblich verändert worden. Aufhalten lassen sich diese Prozesse nicht. Aber durch sorgfältige Analyse der Berghänge können Gefahrenstellen künftiger Ereignisse identifiziert werden.

Berge Graubünden

Ozeanische Gesteine am Mazzaspitz (Avers). (Foto: A. Pfiffner)

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Autor
Adrian Pfiffner ist emeritierter Professor für Strukturgeologie der Universität Bern. Er lebt in Zollikofen.
adrian.pfiffner@geo.unibe.ch