Handelswege durch tosende Schluchten und steile Bergtäler

Vittorio Emanuele-Brücke

Die 1824 erbaute Ponte reale Vittorio Ema­nuele oberhalb San Bernardino, gezeichnet von Richard La Nicca. (Bild: Staatsarchiv Graubünden)

Aus dem Bedürfnis nach Brückenbauern entstand eine Ingenieur-Elite
Graubünden hat über Jahrhunderte nicht vom Tourismus, sondern vom Handel gelebt. Der Kanton war Transitland für Waren von Nord nach Süd und umgekehrt, die Verbindungen über Splügen und San Bernardino gehörten zu den wichtigen Haupthandelsrouten durch die Alpen. So ist es denn auch selbstredend, dass diese Verbindungen stets den Bedürfnissen des Handels angepasst und ausgebaut wurden – unter anderem mit Hunderten von Brücken und anderen Kunstbauten.
Text 
Christian Dettwiler

Die Mobilität hatte in früheren Jahrhunderten einen anderen Stellenwert als heute. Ein Grossteil der Bevölkerung waren sesshafte Bauern oder Handwerker, «unterwegs» waren Kaufleute und Händler oder Armeen, meist zu Fuss, allenfalls als Reiter, und für den Materialtransport wurden Saumtiere beladen, später auch Karren. Die Kaufleute handelten mit Waren aus der Umgebung, zusehends aber auch mit Produkten aus anderen Ländern oder gar Kontinenten. Die Handelshauptorte entstanden im Mittelalter an den Meeresküsten – Venedig, Genua, Lissabon, Hamburg oder Marseille erlangten bald eine führende Rolle im Warengeschäft. Verbunden waren diese Zentren mit Handelsrouten, die teils auch über die Alpen führten. Dabei wurden nicht nur hohe Berge überwunden, an manchen Stellen mussten auch Flüsse und Bäche überquert werden. Auf den alpenquerenden Handelsrouten waren die ersten Brücken Fussgängerübergänge, die zumeist aus Holz gebaut wurden. Bauherren waren die Landeigentümer – einen Staat im modernen Sinne, der zwecks Strassen- oder Eisenbahnbau die Kompetenz zur Landnahme hatte, gab es nicht. Auch den Beruf eines Brückenbauers gab es (von wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht – erst mit den steigenden Erfordernissen der Handelsleute mussten die Verkehrswege ausgebaut werden, breitere und längere Brücken wurden gefordert. Logischerweise waren dazu Spezialisten gefragt, die durch ihre Ausbildung die entsprechenden Kenntnisse hatten. 

Brücken Grubenmann Reichenau/Tamins

Zwei Holzbrücken der Gebrüder Grubenmann bei Reichenau/Tamins. (Bild: Rätisches Museum)

​Holz versus Stein

Wenige Vorreiter hatte die Zunft der angehenden Ingenieure: Es war zwar bekannt, dass bereits ägyptische Pharaonen Holzbrücken über den Nil gebaut haben sollen, in der Literatur überliefert sind auch Konstruktionspläne für Brücken aus Holz von Andrea Palladio, der im 16. Jahrhundert in Padua die Renaissance-Architektur revolutionierte. Ebenfalls aus dem 16. Jahrhundert sind Holzbrücken bei Rapperswil sowie die berühmte Kapellbrücke in Luzern bezeugt. Brücken aus Stein wurden bereits durch die Römer erstellt, sei es als Strassenbrücken oder als Aquädukte zur Wasserführung.

Die wohl wichtigsten und ersten «Ingenieure» im Holzbrückenbau der Schweiz waren die Gebrüder Hans Ulrich und Johann Grubenmann aus Teufen, die mit ihren gewagten Konstruktionen immer grössere Spannweiten realisierten, so in Schaffhausen mit einer Rheinbrücke oder in Graubünden bei Reichenau mit zwei Holzbrücken über den Rhein.

Im Zeichen der Anforderung nach guten und haltbaren Handelsrouten wurde im Kanton Graubünden zwar über den Ausbau des Splügenpasses und der San-Bernardino-Route diskutiert, es fehlte indes an Geld und an Fachleuten. Der Ausbau dieser Routen war aber zwingend, um nicht gegen die Konkurrenz von Gotthard oder Brenner (ehemals Via Raetia) an Bedeutung zu verlieren. Gerade die Handelsmetropolen Mailand und Turin sowie die Hafenstadt Genua waren an diesem Ausbau interessiert, weshalb sich das Königreich Sardinien mit erheblichen Mitteln für den Ausbau der «Unteren Kommerzialstrasse» beteiligte. Für die Finanzierung kamen auch die Handelshäuser und die Säumer auf. Es war der Tessiner Bauunternehmer Giulio Poccobelli, der den Auftrag erhielt – allerdings mit der Auflage, einen jungen Bündner, Richard La Nicca, in sein Team aufzunehmen. Die Bündner sicherten sich damit gleich doppelt ab: Erstens hatten sie einen Überwacher vor Ort und zweitens boten sie dem jungen La Nicca eine aus­gezeichnete Möglichkeit, das Ingenieurwesen zu erlernen. In der Tat nutzte La Nicca diese Chance und wurde zum führenden Ingenieur, Brückenbauer und Planer von Gewässerkorrekturen des Kantons. Die San-Bernardino-Route von Bellinzona bis Chur wurde ab 1818 in nur fünf Jahren gebaut, auf der Strecke wurden 28 neue Brücken errichtet, die Mehrzahl davon als gemauerte Bogenbrücken. Zur gleichen Zeit wurde auch der Säumerpfad über den Splügen zu einer Handelsstrasse mit entsprechender Breite für Fuhrwerke und Kutschen realisiert – dies führte auf beiden Baustellen zu gegenseitigem Abwerben der Mitarbeiter, was der Kleine Rat sodann mit einem Dekret unterbinden musste !

Baul Landwasserviadukt

Der berühmte Landwasserviadukt bei Filisur während der Bauzeit. (Bild: DRG)

​Transporte nehmen zu

Bald nach der Eröffnung der beiden «Kommerzialstrassen» wurden die Passstrassen auch für den Winter geöffnet, meist verbunden mit grossen Anstrengungen zur Freilegung der Spur vom Schnee. Bald wurde der Ruf nach Galerien laut, die dann auch kontinuierlich gebaut wurden. Am Splügenpass wurde 1842 der gesamte Verlauf der Strasse ab Passhöhe Richtung Chiavenna auf die gegenüberliegende Talseite verlegt, wodurch weniger Galerien gebaut werden mussten. Doch die Bau­tätigkeit an beiden Strassen hielt andauernd an, stets waren Verbesserungen das Ziel, die Anfor­derungen der Transporteure stieg kontinuierlich. Eine Statistik aus dem Jahr 1856 belegt, dass auf den beiden Strassen «271 000 Zentner sogenann­te Transitgüter, meistens Tuchwaren, Seide und ­Kaffee, dann noch etwa 100 000 Zentner Wein, Getreide, Mehl, Reis, Holz und andere Konsum­artikel» transportiert wurden. Auch ein 1834 ­eingesetztes Höchstgewicht für die Ladung von 40 Zentner pro Fuhrwerk wurde in den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts fallen gelassen. La Nicca wurde denn nach seinem grossen Engagement für beide Passstrassen 1834 folgerichtig zum ersten Kantons- und Oberingenieur ernannt. In diesem Amt war er dann auch zuständig für den Ausbau der sogenannten «Oberen Strasse», die Chur über den Julier und Maloja mit dem Bergell und der Grenze zur Lombardei verband. Diese bis 1843 fertig gestellte Strasse war die erste, die vollumfänglich vom Kanton finanziert und gebaut wurde.

 

Lavoitobelbrücke

Am Bau der Lavoitobelbrücke bei Tamins war der Künstler Max Bill beteiligt. (Foto: DRG)

Der Privatverkehr kommt

Ein wesentlicher Markstein für die Entwicklung des Brückenbaus in Graubünden fällt auf die ­Öffnung der Strassen für den Privatverkehr 1926. Bereits waren für den Bau der Rhätischen Bahn (RhB) viele Brücken für den öffentlichen Verkehr realisiert worden, dabei wurde vermehrt auch anstelle von Natursteinen Beton als Baumaterial verwendet, die ersten Stahlbetonbrücken wurden so gebaut. Der Langwieser Viadukt war zu seiner Entstehungszeit 1912 bis 1914 die weitestgespannte Stahlbetonbrücke der Welt. Mit dem Privatverkehr, verursacht durch Autos und Lastwagen, stiegen auch die Anforderungen für die Strassen und deren Ausbau. Auch hier wurde seit den späten 20er-Jahren mehrheitlich auf die Stahlbetontechnik gesetzt. Einer der grossen Pioniere dieser Technik war Robert Maillart, ein Berner Bauingenieur, der nach dem Studium an der ETH in Zürich mit einer eigenen Baufirma auch in Graubünden wichtige Spuren im Kunstbau hinterlassen hat. Bekannt sind seine Brücken in Zuoz über den Inn und in Tavanasa über den Vorderrhein (1926 durch eine Lawine zerstört), weltberühmt wurde er jedoch mit seiner Salginatobelbrücke bei Schiers aus dem Jahr 1929, für die er von der American Society of Civil Engineers (ASCA) mit der Auszeichnung «Inter­nationales historisches Denkmal der Ingenieurskunst» bedacht wurde.Mit dem Ausbau des Nationalstrassennetzes wurde auch die «Untere Kommerzialstrasse» am San Bernardino völlig neu geplant, als Brückenbauer hat hier Christian Menn aus Chur eine Vielzahl von Kunstbauten realisiert, namentlich die ele­ganten zwei Brücken über die Moesa am Südportal (1966 – 1968). Bekannte Brückenarbeiten von Menn sind auch die Rheinbrücke bei Tamins (1962) und zuletzt die viel gelobte Sunnibergbrücke in Klosters (1998). Ganz in der Nähe der Taminserbrücke von Christian Menn befindet sich eine weitere, ausserordentlich kühne Brücke: die Lavoitobelbrücke oberhalb von Tamins wurde 1966 vom international bekannten Künstler Max Bill ebenfalls als Stahlbetonbrücke entworfen und gebaut.

Angesichts der 150 Täler im Kanton und der Verkehrswege, die zur Verbindung der Bevölkerung geplant und gebaut wurden, ist es nicht erstaunlich, dass der Kanton so reich an herausragenden Persönlichkeiten im internationalen Ingenieurswesen ist. Auch in jüngerer Zeit haben gerade im Brückenbau weitere Bündner grosse Verdienste erlangt, erwähnt sei hier insbesondere Jürg Conzett.

Weitere Infos

Autor:
Christian Dettwiler ist Redaktionsleiter der «Terra Grischuna». Er lebt in Flims.
redaktion@terra-grischuna.ch

Literatur:
Psychiatrische Dienste Graubünden (Hrsg.), Richard La Nicca, Bilder der Baukunst, Chur, 2006, 270 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen, CHF 68.–; Leza Dosch: Kunst und Landschaft in Graubünden, Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, 420 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen, CHF 38.–

Online:
www.baukultur.gr.ch