Wege, wo vorher keine waren

Der Brückenbau sei gewissermassen die Königsdisziplin des Ingenieurwesens, sagte mir kürzlich ein Bekannter, der beruflich im selben Feld tätig ist. Tatsächlich sind es ja meist kühne Bauten, die nötig sind, um tiefe Abgründe zu überwinden, Hindernisse, die anders nicht zu bewältigen wären. Brücken sind gewissermassen das Gegenteil eines Tunnels: Dort, wo vorher nichts war, steht dann etwas, während bei einem Tunnel nichts ist, wo vorher etwas war.

Graubündens Reichtum an Brücken und Brückenbauern – sie sind tatsächlich zur Hauptsache männlich – hat der «Terra Grischuna» schon früher Anlass zu Ausgaben gegeben, die dem Thema gewidmet sind, so etwa 2015, als unter anderem die grossen Figuren des Brückenbaus in Graubünden zu Ehren kamen. Diese Herren, von Richard La Nicca bis Christian Menn, sind diesmal weniger im Vordergrund. Stattdessen stellen wir den Gerüstbauer Richard Coray vor, ohne dessen Erfindungsgeist so manche Brücke in Graubünden vermutlich weniger kostensparend und effizient erstellt hätte werden können. Und wir sprechen mit Gianfranco Bronzini und Jürg Conzett, Vertreter der zeitgenössischen Brückenbaukunst, die jüngst gar für ihre Arbeit mit dem Schweizer Grand Prix Kunst ausgezeichnet worden sind. Wir stellen aktuelle Brückenbauprojekte wie La Pendenta vor oder schicken Sie zu den schönsten Hängebrücken des Kantons wie auch auf eine Brückenwanderung durch die Viamala.

Brücken lassen sich aber auch metaphorisch verstehen. Brückenbauer nennt der Kanton jene Migranten, die sich um ihre Landsleute bei der Ankunft in der Schweiz kümmern, wie Sie im entsprechenden Artikel erfahren können. Ein gerade in unserer Zeit wichtiger Gedanke, zumal in Europa Krieg herrscht, während die gesellschaftlichen Gräben, die die Coronapandemie aufgerissen hat, noch lange nicht überbrückt sind.

Die «Terra Grischuna» versucht schon seit 80 Jahren, Brückenbauerin zu sein: Vom Ursprungsgedanken, eine Verbindung für Exilbündner zu ihrer alten Heimat zu bieten, zum heutigen Verständnis als hintergründiges Magazin, das auch Themen abseits der ausgetretenen Pfade ins Zentrum stellt. Beispiele dafür finden Sie im zweiten Teil dieses Hefts.

Eine gewinnbringende Lektüre wünscht
Julian Reich, Redaktionsleiter