Das reine Weiss aus der Feuerglut

Chalchera Stella: der wiederaufgebaute Kalkofen in Sur En da Sent.

Ein Unterengadiner Maurer kommt auf den Kalk und entdeckt sein Handwerk neu
Der Maurer Joannes Wetzel und die Architektin Delphine Schmid brennen Dolomit und machen daraus Kalk für eigene Putze und Anstriche. Sie schöpfen aus regionalen Ressourcen und erneuern das traditionelle Maurerhandwerk.
Text 
Text und Bilder Lukas Kistler

Das Strässchen Bagnera in Scuol fällt steil ab und führt zu einem kleinen Platz zwischen zwei Häusern, wo sich fast die ganze Woche schon ein Mischgerät dreht. Zwei Personen stellen damit an einem Donnerstagvormittag im Februar eine Putzmischung her. Die beiden sehen nicht gerade wie Bauarbeiter aus – wie sich herausstellt, sind es die Hausbesitzerin und der Hausbesitzer, die hier Hand anlegen: Jeltje und Ian Gordon-Lennox. Das Genfer Ehepaar hat das rosafarbene Wohnhaus aus dem 19. Jahrhundert kürzlich erworben und will nun den Keller instand stellen, da die Feuchtigkeit diesem zugesetzt hatte. Ian, der Jazzmusiker ist, möchte ihn als Übungsraum nutzen.
 
Dampfwölkchen über der Baustelle

Hier wird ein Handwerk gepflegt, das ausgeübt wird, seit Menschen sesshaft wurden: das Verarbeiten von Kalk. Ein paar Stufen führen in den Keller. Dort verputzen der Maurer Joannes Wetzel und die Architektin Delphine Schmid die rohen, wohl rund fünfhundert Jahre alten Natursteinwände. Der Keller sei älter als das Haus, sagt der Unterengadiner, er schätze dessen Bauzeit aufs 16. Jahrhundert. Er und seine Partnerin schöpfen die zähe, kalkhaltige Putzmasse auf ein Brett und werfen diese mit der Kelle an die Mauer.

Der 35-jährige Wetzel und die 33-jährige Schmid beleben eine Tradition, die im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts fast verschüttgegangen ist, da Zement den Kalk als Bindemittel verdrängte. Sie bereiten nicht nur eigene Putzmischungen aus Kalk zu, sie stellen auch das Ausgangsmaterial – den gebrannten Kalk – selber her. Was in der Gastronomie beinahe schon Mainstream ­ist – die regionale Herkunft der Rohstoffe –, setzen die beiden konsequent beim Bauen um, wie es schon vor der Einführung der Bahn üblich war. Der Kalk kommt nämlich – gebunden in seinem Ursprungsgestein Dolomit – aus den Seitentälern des Unterengadins. Der Dolomitkalk, ein Kalkgestein, das Magnesium enthält, liegt dort zuhauf an den südlich des Inn gelegenen Berghängen – hierzulande eine Besonderheit. Zwar gibt es Kalkgesteine auch sonst in den Alpen und im Jura, aber Dolomit findet man hauptsächlich im östlichen Graubünden.

 

Frischer Putz auf jahrhundertalte Feldsteinmauern: Joannes Wetzel und Delphine Schmid in Scuol am Werk.

Das von Wetzel und Schmid angelernte Ehepaar Gordon-Lennox hat eine klare Rollenverteilung: Der Ehemann kippt die Bestandteile Sand, Puzzolanerde, Kies, gebrannten Kalk und Wasser in bestimmten Anteilen in den Bauch des Mischgeräts, und seine Frau trägt die fertige Masse gleich kübelweise in den Keller hinunter. Das Mischen klingt einfacher, als es ist, muss doch die Rezeptur eingehalten werden und beispielsweise die Menge des Wassers genau abgemessen sein. Giesst Ian Gordon-Lennox Wasser über den bröckligen Kalk, steigen Dampfwölkchen auf: Der gebrannte Kalk reagiert mit dem Wasser und zerfällt dabei – es entsteht neunzig Grad Celsius heisser Löschkalk. Wird Kalk so auf der Baustelle gelöscht und die dabei resultierende warme Putzmischung gleich aufgetragen, heisst letztere «Heissmörtel». Romanische und gotische Darstellungen belegen, dass Putze auf mittelalterlichen Baustellen auch so hergestellt wurden. «Werden Grundputze dick aufgetragen, bilden sich mit Heissmörtel weniger Risse, als wenn diese mit gesumpftem Kalk gemacht würden», fügt Wetzel an. Unter gesumpftem Kalk versteht man gebrannten Kalk, der gelöscht und im Wasser gelagert worden ist.

Bei seiner Putzrezeptur hat sich Joannes Wetzel am historischen Mörtel orientiert, der sich zwischen den Bruchsteinmauern des Kellers fand. Weil der historische ein grobes Korn von vier bis acht Millimeter enthält, gibt Joannes seinem Putz Kies in derselben Grösse bei – darin erneut dem Credo treu, regionale Baustoffe einzusetzen, stammen doch Kies und Sand aus dem nahe gelegenen Sur En da Sent. Allein die Puzzolanerde – fein gemahlener Tuff – stammt nicht aus dem Unterengadin, sondern kommt aus einem deutschen Werk bei Koblenz.

 

So entsteht Heissmörtel: Ian Gordon-Lennox mischt den Putz und löscht den Kalk.

Mehle aus Garnierit, Tuff und Radiolarit – die Pigmente des Inns

Die vier bis fünf Zentimeter dicke Putzschicht braucht zwei bis drei Monate, um zu trocknen. Er bindet ab, indem er Kohlendioxid aus der Luft aufnimmt, und härtet langsam aus. Damit schneidet Kalk in der CO²-Bilanz besser als Zement ab, der bei hohen Temperaturen aus kalkhaltigen Gesteinen gebrannt wird, beim Aushärten aber kein Kohlendioxid aufnimmt.

Im Frühling streichen Wetzel und Schmid die verputzten Mauern – mit einer selbst hergestellten Farbe. Seine Farbpigmente führt Wetzel rund einen Monat später im März in seinem Atelier vor, das sich im Keller seines Wohnhauses im Unterengadiner Dörfchen Chaflur befindet. Farbmuster in dezentem Rosa, Ocker, Grün oder Schwarz sind auf weissen Platten aufgemalt. Diese Anstriche hat er mit Wasser, eingesumpftem Kalk und Steinmehlen, die als Pigmente dienen, hergestellt. Die Steine dafür hat Wetzel im Flussbett des Inn gesammelt und anschliessend gemahlen: grüner Garnierit etwa, Tuff in Ockertönen und rosafarbenen Radiolarit.

Streicht man verputzte Mauern, sei es wichtig, den richtigen Zeitpunkt dafür zu erwischen, sagt Wetzel. Der Putz solle bloss angetrocknet, aber nicht ausgehärtet sein, sodass der Anstrich sich mit dem Putz verbinden und abbinden kann. Seccoanstriche unterscheiden sich von solchen Frescoanstrichen dadurch, dass Erstere auf ausgehärteten Kalkputzen aufgetragen werden.

Wetzels früh erworbene Abneigung gegen industriell gefertigte Baustoffe hat ihn auf einen Weg gebracht, der ihn zum traditionellen Handwerk führte. «Es macht Spass, Putzmischungen und Farben selber herzustellen», sagt er. «Dabei kann ich kreativ sein, etwa indem ich beim Putz die Körnung des Sands wähle und Pigmente oder Pflanzenkohle beimische.» Kalkputze seien Putzen mit Zement überlegen: Kalkputz sei in der Lage, Feuchtigkeit auf- und wieder abzugeben, und härte weniger schnell aus als industriell gefertigter Putz. Damit habe er mehr Zeit, um ihn zu verarbeiten, und könne ihn gar lagern, was die schnell aushärtenden Zementmischungen nicht erlauben. Werden sie luftdicht aufbewahrt, halten sich Kalkputze sogar jahrelang. Auch erwähnt Wetzel gesundheitliche Vorteile, haben doch seine Kalkputze und -anstriche keine synthetisch produzierten Zuschlagstoffe, etwa Dispersionspulver.

 

Im Atelier in Chaflur: Joannes Wetzel und Delphine Schmid mit Farbmustern.

Der Nase der Tochter nach

Nicht nur dass Wetzel und Schmid eigene Putze und Anstriche aus Kalk mischen, sie stellen den dafür nötigen Brannt- und Löschkalk auch selber her. Dafür müssen erst grosse Mengen an Dolomit zum Kalkofen gebracht werden – eine Knochenarbeit, die Wetzel und Schmid mit Freiwilligen zuletzt vor zwei Jahren im Val d’Uina, einem Seitental des Unterengadins auf der Höhe von Sent, bewältigten. 21 Tonnen hatten sie gesammelt und anschliessend 14 davon gebrannt. Dort, wo der Bach in den Inn entwässert, befindet sich der Weiler Sur En da Sent. Nahebei hat Wetzel 2017 auf den Ruinen eines historischen Kalkofens einen neuen Ofen gebaut.

Dorthin fahren wir nach dem Besuch in Chaflur. Ein Weg führt in den Wald hinein. Der Ofen befindet sich grösstenteils im Erdreich und ist von zwei unterschiedlich hohen, geschindelten Pultdächern beschirmt. Zwei geschweifte Mauern – «Schnauze» genannt – setzen beim Ofenloch, der «Küche», an. Blickt man dort hinein, sieht man direkt in die «Hölle», wo die Holzscheite verbrennen. Von oben erinnert der Ofen an einen nicht sehr tiefen Ziehbrunnen. Das zylindrische, rund fünf Meter tiefe Loch ist von einer gemörtelten Natursteinmauer gefasst.

«Chalchera Stella» heisst der Kalkofen. Er sei nach einer Tochter von ihm benannt, weil sie den Vater vor ein paar Jahren auf die richtige Fährte gebracht habe, erzählt Wetzel. Sie schlug ihm einen Spaziergang durch dieses Waldstück vor, worauf sie Überreste des Ofens entdeckten. Sein Auge ist mittlerweile darin geschult, Spuren von alten Öfen zu finden. «Häufig erkennt man sie an einem runden Hügel und an Bäumen, die dort gerne wachsen, weil der Boden Reste von Kalk enthält», meint der Unterengadiner. «Früher gab es in jedem Dorf einen Kalkbrenner und einen Ofen.»

Sind die Kalksteine zusammengetragen, beginnt das Aufschichten des Dolomits. Delphine Schmid hat noch im Wohnhaus in Strada mithilfe ihres Buchtyposkripts gezeigt, wie dies statisch und brandtechnisch funktioniert: Die Steine werden nicht einfach in das Loch hineingekippt, sondern kunstvoll in Trockenbauweise aufgetürmt. Dabei entsteht eine Art Turm, denn die Steine berühren das Mauerrund des Zylinders nicht. Auf einem eigens konstruierten Holzgerüst – Zimmerleute sprechen von «Leergerüst» – legen die Kalkbrennerinnen und -brenner zuerst grössere und keilförmige Steinbrocken auf und schichten nach und nach weitere und immer kleinere Steine auf. Der Dolomit schrumpft beim Brand durch die enorme Hitze, weshalb der Steinturm in sich stabil aufgemauert werden muss. Dabei bauen sie sogenannte Pfeifen ein, sechs senkrecht stehende Holzpfähle.

Der Brand folgt einem bestimmten Ablauf, die Hitze erreicht Tag für Tag und Nacht für Nacht eine höhere Temperatur. Auf seinem Höhepunkt werden tausend Grad Celsius erreicht. Früh schon brennen die Pfeifen ab und lassen Luftkanäle zurück, durch die Luft zirkulieren kann. Am zweiten Tag werden Fichtenzweige über die Steine gelegt und Lehm darüber verstrichen, sodass ein Deckel entsteht. Löcher im Lehmdeckel sorgen ebenfalls für die Luftzirkulation. Dann decken die Kalkbrennerinnen und -brenner den rundum laufenden Spalt zwischen Mauerrund und Dolomitsteinen mit Schamottsteinen ab. Rund sieben Tage und Nächte muss das Feuer ohne Unterlass brennen. Nachts lösen sich zwei oder drei Kalkbrennerinnen und -brenner ab, ein Tipi steht für die Schlafsuchenden parat. 2020 verfeuerten sie fünfzig Kubikmeter Nadelholz und ernteten sieben bis acht Tonnen Branntkalk.

Wetzel musste bei seinem ersten Brand im nahe gelegenen Val Zuort Lehrgeld bezahlen. Denn Kalkbrennen ist heutzutage absolut exotisch – obgleich die historischen Engadiner Steinbauten ihre Existenz gebranntem Kalk verdanken. Als Pioniere, die den Faden des traditionellen Handwerks wieder aufnehmen, wendeten Wetzel und Schmid zwangsläufig das Trial-and-Error-Prinzip an. Nun aber können sie als gestandene Kalkbrennerin und -brenner getrost den nächsten Brand in Angriff nehmen. Dieser ist im Juli und August vorgesehen – noch suchen die beiden Handwerkspioniere dafür Fördermittel und Freiwillige.

 

Weitere Infos

Autor Lukas Kistler ist freischaffender Journalist, arbeitet im Bundesamt für Raumentwicklung und studiert Denkmalpflege und Umnutzung.

Online www.kalkwerk.ch

Literatur Chalchera – Kalk in Transformation. Natur, Handwerk und Kunst ausgehend von einem historischen Kalkofen im Engadin. Herausgegeben von Christof Rösch, Myriam Gallo und Fundaziun Nairs. Zürich 2020.