Wie man betete und lebte

Das kirchliche Zentrum Sogn Murezi in Tomils

Wer auf der grünen Wiese baut, hat selten Probleme. Nicht so in Tomils im Jahr 1994: Da stiessen die Bauarbeiter für ein Einfamilienhaus schon kurz nach dem Baubeginn auf Mauerreste im Erdreich. Der Archäologische Dienst wurde informiert, die Bauarbeiten gestoppt, der Bauherr stand erst einmal ohne Baugrund da. Glücklicherweise fasste sich der damalige Präsident der Kirchgemeinde, der geschichtsinteressierte Othmar Caviezel, ein Herz und tauschte sogleich ein Stück Land ab. Der Bauherr durfte dort weiterbauen, die Archäologen fortan die Mauerreste freilegen.

Nun wurden die seither gemachten Funde ausgewertet, und zwar so gründlich, wie es in der Schweiz bislang erst im Kloster St. Johann in Müstair und dem Kathedralenkomplex von Genf möglich war. Ursina Jecklin-Tischhauser hat daraus ihre Dissertation an der Universität Zürich verfasst, erschienen ist diese nun in vier Bänden in der Reihe Archäologie Graubünden beim Somedia Buchverlag. Und Jecklin-Tischhauser kommt darin zu so manch überraschender Erkenntnis.

 

Gut geheizt im Frühmittelalter

Zunächst einmal erstaunt es, dass die Flur Sogn Murezi schon seit römischen Zeiten besiedelt war, worauf zahlreich Funde hinweisen, darunter ein vermutlich zu kultischen Zwecken vergrabenes Rind und fast 130 römische Gefässe. Um 500 sind sodann Holzbauten bezeugt, die durch ein Feuer zerstört wurden, kurze Zeit später entstanden die ersten Steinbauten, deren Ausmasse auf eine gehobene soziale Stellung hinweisen. Ein weiterer Hinweis auf eine nicht ganz ärmliche Bauherrschaft ist die vorgefundene Kanalheizung. Um 650 entstand an derselben Stelle, wenn auch leicht versetzt, der erste Kirchenbau, wieder mit einer Y-förmigen Kanalheizung, womit der Boden erwärmt werden konnte.

Jecklin-Tischhauser zieht eine Reihe von Hinweisen auf die Erbauer dieser Anlage heran. So deutet das Fragment einer Inschrift auf einen «DOM P» hin, was Bischof Paschalis meinen könnte, einen Sprössling der damals einflussreichen Familie der Zacconen (auch Victoriden genannt). Auf dem Speisezettel, auch das beweisen Funde, stand quasi Haute-Cuisine: Geflügel und Schweinefleisch, junge Schafe, Ziegen und Ferkel, Hecht, Felchen und Aal. Gegessen respektive getrunken wurde zumindest teilweise aus gläsernem Geschirr.  

Klostergründer und Heiliger

Paschalis‘ Sohn Victor II. könnte hier als Priester geamtet haben, bevor er selber Bischof wurde. Er gründete zudem um das Jahr 700 das Kloster Cazis, eine Einrichtung, die unter anderem dazu diente, die weiblichen Abkömmlinge der Familie zu versorgen. Später verband sich seine Lebensgeschichte mit der des Heiligen Victor; ihm ist unweit von Tomils eine Kapelle gewidmet.

Für die wichtige Stellung von Sogn Murezi deuten auch die Ende des 7. Jahrhunderts erbauten Annexen an die Kirche hin, vermutlich Aufenthaltsräume, eine Küche, eine Backstube und ein Hof. Insgesamt zählten die Archäologen bis zu acht Herdstellen. Hier mussten offenbar viele Leute verköstigt werden, und die Vermutung liegt nahe, dass damit durchreisende Pilger und Geistliche gemeint sind, die sich entlang der Nord-Süd-Achse bewegten. Die Forschung kennt solche Einrichtungen unter dem Namen Xenodochium. Einem Orden gehörten die Bewohner jedoch vermutlich nicht an.

Noch vor 800 wurde die Kirche leicht verkürzt und drei Apsiden eingebaut, ähnlich wie wir sie von Müstair oder der Kirche ­Mistail kennen. Und bald danach erfuhren auch die Annexbauten weitere Vergrösserungen, so wurden etwa aus Holz und Lehm Aufbauten vorgenommen. Doch ein Brand zerstörte vieles um das Jahr 900. Die folgenden Renovationsarbeiten konnten die Anlage nicht mehr zu ihrer vorherigen Grösse wiederherstellen. Im 10. Jahrhundert wurden die Annexbauten sodann ganz abgerissen und die Kirche stand nun frei auf dem Feld – umgeben von einem Friedhof, eingefasst von einer Mauer.

Problemzone Schilddrüse

Neben der archäologischen Auswertung umfasst die Publikation auch die anthropologische Untersuchung der rund 400 gefundenen Skelette auf dem Friedhofareal. Diese besorgte Christina Papageorgopoulou und sie fand, dass in Tomils im Hochmittelalter jeweils rund 50 Personen lebten, davon ein Viertel Kinder und Jugendliche, wenige nur waren älter als 60. Die Lebenserwartung betrug rund 44 Jahre, die Kindersterblichkeit lag zwischen 1,5 und 1,7 verstorbene Kinder pro Familie. Die Skelette wiesen auf die für die damalige Zeit typische harte körperliche Arbeit hin, wobei noch eine Domleschger Besonderheit auffällt: Offenbar litt man über­durchschnittlich an Schilddrüsenerkrankun­gen, eine Folge von Jodmangel.

Neben den archäologischen und anthro­pologischen Funden und Auswertungen beinhaltet die Publikation überdies einen Aufsatz von Florian Hitz über die kirchenrechtliche Stellung von Sogn Murezi, soweit sie aus den Urkunden ersichtlich ist. Demnach war Sogn Murezi lange Zeit das eigentliche kirchliche Zentrum des Ausserdomleschgs und somit höherrangig als die bislang dafür gehaltene Kirche/Kapelle St. Lorenz in Paspels. Als solche war sie und die damit einhergehenden Rechte oftmals Gegenstand der nicht immer einvernehmlichen Geschäfte zwischen Bischof und der einflussreichen Familie der Vazer im Domleschg.

Nach ihrer Auflassung im 15. Jahrhundert verfiel die Kirche zusehends und wurde letztlich mit Erdreich überschüttet. Bis, wie gesagt, die Bagger auffuhren und eine Reihe von Neuigkeiten aus alter Zeit hervorbrachten.

Julian Reich

 

Weitere Infos
Zum Buch

Ursina Jecklin-Tischhauser: Tomils, Sogn ­Murezi. Ein kirchliches Zentrum im frühmittel­alterlichen Graubünden. Somedia Buchverlag, 2020, vier Bände mit Schuber, Reihe: Archäologie Graubünden, Sonderheft 8, CHF 68.–.